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Dienstag, 14.05.2013 / 19.00h-20.00h
Medizinische Diagnostik und Therapie – eine Gratwanderung
zwischen zu wenig und zu viel
Karin Fattinger
Ein 68-jähriger Patient mit Atemnot
68-jähriger Mann
- vor 20 Jahren Herzinfarkt
- seit 16 Jahren in Behandlung wegen Parkinson’scher Krankheit,
im Alltag deutlich eingeschränkt (auch Mobilität), hilfsbedürftig
kommt auf den Notfall
- zu Hause wiederholt plötzlich starke Atemnot
Atemnot: Ursachen ?Herz, z.B.- Rhythmusstörung- Herzinfarkt- Herzleistungsschwäche
Lunge, z.B.- Lungengewebe: Lungenentzündung- Gefässe: Lungenembolie- Luftwege: Allergie, Asthma, obstruktive Lungenkrankheit (Raucher), Tumor- Brustfell: Pneumothorax
Anderes:- Blutarmut- Muskelschwäche- Stoffwechselentgleisung bei Zuckerkrankheit
….
Was berichtet der Patient ? (Anamnese)
seit circa 1 Woche immer wieder plötzlich starke Atemnot, hält jeweils circa ¼ Stunde an, dann wird es langsam wieder besser
zwischen den Episoden keine Atemnot
Atemnot nicht positions- oder anstrengungsabhängig, keine Auslöser für Atemnotanfälle
zudem atemabhängige Brustschmerzen rechtsseitig
kein Fieber, kein vermehrtes Schwitzen, kein Husten, kein Auswurf, kein Bluthusten, kein Herzklopfen
wegen Parkinson wenig mobil, braucht im Alltag Hilfe
seit langem: Parkinsonmedikamente, Aspirin, Betablocker
Was finden wir ? (Status = Klinische Untersuchung)
Patient wach, ordentlicher Allgemein- und Ernährungszustand,
normale Hautfarbe (keine Blässe, keine blauen Lippen),
Untersuchung von Herz und Lunge unauffällig,
Extremitäten bis auf Steifheit und Zittern der Arme und Beine (Parkinson) unauffällig, Gangunsicherheit
Blutdruck 125 / 80 mm Hg, Puls 106 / min, regelmässig, Atemfrequenz 20 / min, periphere Sauerstoffsättigung 90%
Atemnot: Ursachen ?Herz, z.B.- Rhythmusstörung- Herzinfarkt - ?- Herzleistungsschwäche
Lunge, z.B.- Lungengewebe: Lungenentzündung - ?- Gefässe: Lungenembolie- Luftwege: Allergie, Asthma, obstruktive Lungenkrankheit (Raucher) Tumor - ?- Brustfell: Pneumothorax,
Anderes:- Blutarmut- Muskelschwäche- Stoffwechselentgleisung bei Zuckerkrankheit
….
Tiefe Venenthrombose und Lungenembolienatürlicher Verlauf OHNE Behandlung
erneute nicht-tödliche Lungenembolie Tod
Lungenembolie
proximale tiefe Venenthrombose (Oberschenkel, Becken, grosse Hohlvene)
distale tiefe Venenthrombose(Unterschenkel)
50%
10%
25%25%
Wie wahrscheinlich ist eine Lungenembolie?
S McGee, Evidence-based physical diagnosis, 2012
Lungenembolie: wie nachweisen?
Risiken einer Computertomographie?
R. Smith-Bindman et al. Arch Intern Med. 2009;169: 2078-86
Kontrastmittelgabe
Nierenfunktion ↓
Schilddrüse ↑ (Jod)
allergische Reaktionen
Röntgenstrahlen
Lungenembolie: Revised Geneva Score
Punkte
Alter > 65 Jahre 1
vorgängig tiefe Venenthrombose oder Lungenembolie 3
Operation / Beinbruch < 1 Monat 2
aktive Krebserkrankung 2
einseitige Beinschmerzen 3
Schmerzen bei Untersuchung der Beinvenen + einseitige Schwellung 4
Puls 75-94 / min 3
Puls ≥ 95 / min 5
Bluthusten 2
unser Patient 6 Punkte
Punkte Wahrscheinlichkeit LE 0-3 Tief (9%) 4-10 Intermediär (28%) ≥ 11 Hoch (72%)
G Le Gal et al. Ann Intern Med. 2006;144:165
Laboruntersuchung: D-Dimer Test (ELISA Vidas®)
vorher Gemäss Revised Geneva Score
D-Dimer < 500 D-Dimer ≥ 500
tief (9%) 0.5% 13%
mittel (28%) 2 % 37%
hoch (72%) 13 % 80%
Anteil Patienten mit Lungenembolie
H. Bounameaux et al., Lancet 1991: 337: 196
~ 1/3 der Patientenbrauchen keine weitere Diagnostik
niedriges /mittleres Risiko hohes Risiko
D-Dimere (VIDAS®)< 500 ≥ 500
Computer-tomographie
Lungenembolie
negativ positiv
keineLungenembolie
Lungenszintigraphie oder Pulmonalis-
angiographie
Computer-tomographie
positiv negativ
positiv negativ
keineLungenembolie
M. Righini et al, Lancet 2008; 371: 1343
Computertomographie
Wahrscheinlichkeitaufgrund klinischer Beurteilung
Lungenembolie bei positivem Resultat
keine Lungenembolie bei negativem
Resultat
tief (9%) 58% 96%
mittel (28%) 92% 89%
hoch (72%) 96% 60%
PD Stein et al, N Engl J Med 2006; 354: 2317
Beurteilung am NotfallWiederholte Dyspnoe-Attacken unklarer Ursache
- keine Hinweise auf kardiale oder pulmonale Ursache
- CT: keine Hinweise auf Lungenembolie
D-Dimere: unspezifischer Test, in diesem Fall falsch positiv
Vorgehen• mit Patient und Angehörigen besprechen• keine Indikation zur Blutverdünnung mit oralen Antikoagulantien• stationäre Aufnahme zur Beobachtung und weiteren Abklärung
Orale Antikoagulatien: Blutungskomplikationen
1544 Patienten – 5461 Patientenjahre (PJ) Follow-up
124 Blutungskomplikationen 2.3 / 100 PJ Indikation Vorhofflimmern 2.2
Indikation Thrombose / Lungenembolie 1.9 Indikation künstliche Klappe 3.3
8 Todesfälle durch Blutungen 0.14 / 100 PJ
Ort: Magendarmtrakt 35%, v.a. schwere Nasenbluten 21%, v.a. leichtere
im Schädel / Gehirn 15% Weichteile 10% Blut im Urin 9% blutiger Husten 5% weiteres 5%
JC Trullas-Vila, J Thromb Thrombolysis, 2009, DOI 10.1007/s11239-009-0311-9
Number needed to treat (NNT) vs. to harm (NNH)für die orale Antikoagulation
LungenembolieNNT 2 - 4 Patienten
Schlaganfall Risiko bei VorhofflimmernNNT Primärprävention: 40 Patienten
Sekundärprävention: 14 Patientend.h. Behandlung für 1 Jahr um 1 CVI zu verhindern
NNH (2.3 Blutungen pro Jahr) 43 Patienten (0.14 Todesfälle pro Jahr) 720 Patienten
Weiterer Verlauf
• Weiterhin circa 1-2 mal täglich schwere Dyspnoe-Attacken• Keine andere Ursache für Dyspnoe gefunden
• 5 Tage später: Lungenszintigraphie: positiv für Lungenembolie• Beginn mit Blutverdünnung• Im Verlauf keine Dyspnoe-Attacken mehr• Entlassung nach Hause mit Unterstützung der Spitex
• Blutverdünnung - für wie lange? mindestens 3 Monate ev. danach weiterführen: Sturzrisiko? was will der Patient?
eine andere Situation ... 50-jährige Frau mit Enddarmkrebs
• Die Patientin hatte Blut im Stuhl• Bei der Darmspiegelung Enddarmkrebs entdeckt • CT Bauch, Becken und Thorax zur Planung der Therapie
• der Radiologie ruft Sie an, wegen Zufallsbefund einer Lungenembolie im CT an.
Was tun?
Computertomographie
Wahrscheinlichkeitaufgrund klinischer Beurteilung
Lungenembolie bei positivem Resultat
keine Lungenembolie bei negativem
Resultat
tief (9%) 58% Zentrale Gefässe 97%Segmentarterien 68%Subsegmentale Arterien 25%
96%
mittel (28%) 92% 89%
hoch (72%) 96% 60%
PD Stein et al, N Engl J Med 2006; 354: 2317
Fazit zur Diagnostik
• Hausarzt / Spitalinternist als Übersetzer und Begleiter wichtig
• Anamnese und klinische Untersuchung stellen die wichtigste Grundlage jeder Diagnostik dar
• auch diagnostische Verfahren haben ihre Risiken
• diagnostische Tests immer im klinischen Kontext beurteilen
• Vorsicht bei Zufallsbefunden
• die Möglichkeit von falsch negativen bzw. falsch positiven Testresultaten in Betracht ziehen
• der klinische Verlauf (= die Zeit) kann für die Klärung der Diagnose essentiell sein
• offen informieren und Patienten einbeziehen
Arzneimittelrisiken, z. B.
Der Weg eines Arzneimittels in die Klinik
Kennen lernen
Nützt es?
Zusätzliche Risiken?
}Phase I
Phase II
Phase III
Phase IV
Präklinische Prüfung
Zulassung
Klinische Anwendung
z. B. Phase 3 Studie: Regorafenib bei vorbehandelten Patienten mit metastasierendem Colonkarzinom (CORRECT)
6.4 und 5.0 Monateim Median
1.9 und 1.7 Monateim Median
Lancet 2013; 381: 303–12
Nebenwirkungen Regorafenib Placebo
Nebenwirkung - Grad 3 oder 4 54% 14%
Müdigkeit, Erschöpfung 9% 5%
Hand-/Fuss-Hautreaktion 17% <1%
Anderer Ausschlag 6% -
Durchfall 7% 1%
Hypertonie 7% 1%
Lebensqualität am Ende der Behandlung (je höher, desto besser)
EORTC QLQ-C30 48.9 51.9
EQ-5D index score 0.59 0.59
EQ-5D VAS 55.5 57.3
z. B. Phase 3 Studie: Regorafenib bei vorbehandelten Patienten mit metastasierendem Colonkarzinom (CORRECT)
Lancet 2013; 381: 303–12
Nutzen
Dosierung
Begleiterkrankungen,Co-Medikation,Umwelt,Genetik etc.
Optimale Bedingungenfür Wirksamkeitsnachweis
Pharmakotherapie: Dosis-Wirkungsbeziehung
Response Surface
Studien klinischer Alltag
total ~2000 bis 4000 Personen breiter Einsatz
vor allem 20- bis 70-jährige auch Ältere, Kinder
„kontrolliert Kranke“ auch polymorbide Patienten mit Polypharmazie
Zielgruppe nach Markteinführung vs. Studienkollektiv
Bevölkerung mit Erkrankung
Stichprobe der Studie
Ein- & Ausschlusskriterien
krank, aber nicht einschliessbar
z.B. bleiben beiDepressionen : ~20%COPD & Asthma: ~5% repräsentativ?
mehrfach Kranke? ältere Patienten?
z. B. bei Depressionen:Wirkung ↓ & Nebenwirkung ↑
SR Wisniewski et al, Am J Psychiatry 2009; 166:599; J Travers et al, Thorax 2007 62: 219 & Respir Med; 2007: 101, 1313
Polypharmazie im Spital
Anzahl verschiedener Arzneistoffe pro Patient und Tag
Fattinger et al, Br J Clin Pharmacol 2000; 49: 158
21
%
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 2302468
1012
n=10‘822 Hospitalisationen, Innere Medizin, 96-03Pharmakoepidemiologie Kohorte ZH & SG
Risikofaktoren für unerwünschte Arzneimittelereignisse
ohne mit unerwünschtem Arzneimittelereignis
Frauen* 40% 46%
Alter1 61 (46, 74) 58 (40, 73)
Wirkstoffe/Tag1* 5 (3, 7) 7 (4, 9)
* p < 0.017
1 Median (Q1,Q3)
Fattinger et al, Br J Clin Pharmacol 2000; 49: 158
Patienten
Häufigkeit von unerwünschten Arzneimittelereignissen (UAE)
K. Fattinger et al, Br J Clin Pharmacol 2000:49:158, und B. Hardmeier & K. Fattinger Swiss Med Wkly 2004;134: 664
• 4% der Spitaleintritte wegen UAE
• im Spital treten bei 8% aller Patienten UAE auf
• UAE tragen ~9% aller Hospitalisationstage bei
• 0.2% aller Patienten versterben an UAE hochgerechnet für CH: 500-1800 UAE-bedingte Fälle/Jahr, damit 5.-7. häufigste Todesursache
Informationen zu Wechselwirkungen
9’481 ältere Patienten, ambulant
669 Wirkstoffe13’672 Kombinationen
bei 1029 (7.5%)Angaben zur Kombination verfügbar
mittel- schwer
keine oder leichte
Massnahmen möglich
V. Bergk et al., Clin Pharmacol Ther 2004;76:85
Art der Wechselwirkung
schwer
Überraschungen mit einem Pflanzenpräparat
Johanniskraut• eingesetzt gegen Angst und Unruhe,• bei milder bis mittelschwerer akuter
Depression zum Teil wirksam.
F. Ruschitzka et al., Lancet 2000;355:548
schwere Abstossung
schwere Abstossung
Johanniskrautextrakt 3 x 300 mg/Tag
Johanniskrautextrakt 3 x 300 mg/Tag
Herz-transplanation
Herz-transplanation
Zeit0 1 2 3S
erum
konz
entra
tion
0
1
2
3
4
Leber
Darm
Galle
MDR1
CYPCYP
MDR1
Leber
Darm
Galle MDR1
CYPCYP
MDR1
Zeit0 1 2 3Se
rum
konz
entra
tion
0
1
2
3
4
Induktion
CYP Cytochrom P450 3A4, MDR1 Multi- Drug Resistance Protein 1
Johanniskraut: induzierende Effekte beim Menschen
Darm Leber
+ 48%, P<0.02
+44%, P<0.01
D.Dürr, & K. Fattinger, Clin Pharmacol Ther 2000;68:598
MDR
1
+ 37%,P<0.03
Kontrolle JohanniskrautKontrolle JohanniskrautKontrolle Johanniskraut
Cyclosporin A (Transplantation)
Orale Kontrazeptiva (Pille)
Simvastatin (Lipidsenker)
Proteasehemmer (HIV)
und viele andere
Fazit zur Therapie
• Hausarzt / Spitalinternist als Übersetzer und Begleiter wichtig
• Gültigkeit von Studienresultaten und Richtlinien für mehrfachkranke und ältere Patienten z.T. fraglich
• unerwünschte Arzneimittelereignisse in Spital & Praxis häufig
• bei jeder Therapie das Nutzen-Risiko-Verhältnis beurteilen
• den Therapieerfolg überwachen und wichtige Risiken kennen
• neue Medikamente zurückhaltend einsetzen, d. h. nur wenn klare Vorteile gegenüber altbewährten Medikamenten gezeigt wurden
• unsere Kenntnisse zu Nebenwirkungen und Interaktionen sind limitiert: auf Überraschungen gefasst zu sein!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !
Rausgenommene Folien
Diagnostik
• z. B. ein 68-jähriger Patient mit Atemnot
Therapie
• Arzneimittel zwischen Nutzen und Risiko
H. Bounameaux et al., Lancet 1991: 337: 196
D-Dimer Test (ELISA Vidas®) und Lungenembolie
Blutverdünnung, z.B. bei mechanischen Herzklappen
S.C. Cannegieter, et al, N Engl J Med 1995; 333:11
Schlaganfall durch Gerinnsel
Schlaganfall durch Blutung
Inzi
denz
pro
100
Pat
ient
enja
hre
Stärke der Blutverdünnung