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2.2 Teilnehmende Beobachtung im Lebensraum „Straße“ in
Yogyakarta - Indonesien Anika Malkus
Die kleinen Herzen der Straße
Bewusst über ein Leben, das bereits morsch ist
Bewusst über ein Leben, das mehr und mehr in Vergessenheit gerät
Ohne seine Zukunft beschreiten und gestalten zu können
Während ich bedaure, vergessen worden zu sein
Läuft die Zeit fortwährend an mir vorbei
Meine Zeit ist unterdessen vergeblich und umsonst
Ich schreite weiter mit meinen Sünden
Es ist so, als sähe man eine welke Blume
Die trocken am Wegesrand liegt
Und versucht, aus dem Tod zu erwachen
Um ein neues Leben zu beginnen
Wir, die kleinen Herzen der Straße
Wie lange sollen wir diesen Weg noch gehen?
Wir benötigen eine Antwort
Von denen in den mächtigen Ämtern
(Lied einer Gruppe von „Straßenkindern“ aus Yogyakarta)
Im folgenden Teil der Arbeit steht meine teilnehmende Beobachtung im Lebensraum
„Straße“ in der indonesischen Stadt Yogyakarta im Mittelpunkt, die ich von Anfang
Oktober 2003 bis Ende Februar 2004 durchführte. Ein wesentliches Anliegen
innerhalb dieses Zeitraumes war für mich, einen Einblick in die lebensweltlichen
Kontexte, zentralen Probleme und individuellen Handlungsstrategien der dort
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lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu bekommen. Meine
Beobachtungen fanden größtenteils an zwei Aufenthaltsorten der in Yogyakarta auf
der Straße lebenden Personen statt, der Straßenkreuzung Gondomanan und der
Haupteinkaufsstraße Jalan Malioboro. Darüber hinaus hatte ich während meines
Aufenthaltes engeren Kontakt zu einigen in Yogyakarta tätigen
Nichtregierungsorganisationen, die mir sowohl den ersten Kontakt zu den Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichten, als auch einen Einblick in
Schwerpunkte und Konzepte ihrer Arbeit gewährten.
Bei der Beschreibung und Interpretation meiner Beobachtungen und deren
kontextueller Einordnung stütze ich mich sowohl auf indonesienspezifische Literatur
als auch auf Auszüge meines Forschungstagebuches. Darüber hinaus stellt die
theoretische Ausarbeitung des ersten Teils dieser Arbeit eine Grundlage meiner
Ausführungen dar.
In meinen Darstellungen werde ich zu einer Einordnung der spezifischen
Lebenssituation der auf der Straße lebenden Personen bei einem umfassenderen
gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext ansetzen, wobei ich mich im
Wesentlichen auf Literaturquellen beziehe. Daran anschließend werde ich mich auf
unterschiedliche Aspekte meiner Beobachtungen im Lebensraum „Straße“
konzentrieren, wobei ich eingangs eine Beschreibung des von mir beobachteten
Feldes vornehmen werde bevor. Darauf folgend werde ich näher auf zentrale
Probleme im Lebensalltag auf der Straße eingehen, um daran anschließend
wesentliche Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen herauszuarbeiten. Anschließend wird die Rolle der
im Lebensraum „Straße“ tätigen Nichtregierungsorganisationen in meiner Arbeit
zum Tragen kommen, wobei ich als Beispiel die NGO HUMANA gewählt habe,
deren Arbeit und Konzepte ich darstellen werde.
Abschließend möchte ich meine Erfahrungen als teilnehmende Beobachterin in einer
Subkultur unter unterschiedlichen Gesichtspunkten kritisch reflektieren, wobei ich
insbesondere im letzten Punkt die Bedeutung lebensweltlicher Kontexte für
pädagogische Handlungskonzepte hervorheben werde.
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2.2.1 Lebensweltlicher Kontext
2.2.1.1 Land, Gesellschaft, Kultur
Indonesien ist als Inselarchipel bestehend aus mehr als 17.000 Inseln mit ca. 210
Millionen Einwohnern und einem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum von rund
2% das viertbevölkerungsreichste Land der Welt1. Ungefähr 110 Millionen
Einwohner leben auf der Insel Java, die 6,6% der Gesamtfläche des Landes
einnimmt. Damit gehört diese Insel mit rund 755 Einwohnern pro Quadratkilometer
zu den dicht besiedeltsten Gebieten der Welt (vgl. Encarta Enzyklopädie 2001). Die
Bevölkerung Indonesiens setzt sich zusammen aus rund 500 unterschiedlichen
ethnischen Gruppen mit jeweils eigenen stammesinternen Muttersprachen. Als
nationale Landessprache gilt die Bahasa Indonesia, die Schätzungen zufolge
mittlerweile etwa 90% der indonesischen Bevölkerung beherrschen.
Mit rund 87% der Bevölkerung, die sich zum Islam bekennen ist Indonesien das
bevölkerungsreichste muslimische Land. Allerdings ist die Religionsfreiheit in der
indonesischen Verfassung verankert, so dass Indonesien kein islamischer Staat ist.
Vielmehr stellt die Staatsideologie Pancasila mit ihren fünf Säulen die Grundlage
staatlichen Handelns dar. Diese fünf Säulen beinhalten 1. den Glaube an einen Gott,
2. die Achtung der Menschenrechte, 3. die nationale Einheit Indonesiens, 4.
Demokratie und 5. soziale Gerechtigkeit. In ihr sind fünf Religionen offiziell
anerkannt, von denen vier religiöse Minderheiten darstellen: Rund 10% der
Bevölkerung bekennt sich zum Christentum, wobei der Anteil an Protestanten bei
etwa 7% liegt, weitere 2% sind Hindus, und etwa 1% Buddhisten (vgl. Schreiner
(Hrsg.) 2001, S. 159). Die Anhänger autochthoner, sogenannter Stammesreligionen,
die etwa 1% der Bevölkerung ausmachen, sind in diesen Statistiken als solche nicht
erfasst, da die Religionsangehörigkeit im Personalausweis vermerkt wird und somit
jeder indonesische Staatsbürger verpflichtet ist, sich offiziell zu einer der oben
genannten anerkannten Religionen zu bekennen (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S.159).
Die islamische Gemeinschaft Indonesiens stellt keineswegs ein einheitliches Gebilde
dar, sondern weist sowohl regional als auch theologisch große Unterschiede auf. So
kann in Indonesien deutlich zwischen einer modernistischen und einer traditionellen
islamischen Strömung unterschieden werden. Unter den traditionalistischen
Islamisten werden jene Gruppen verstanden, die Erneuerungen und
Neuinterpretationen weniger flexibel und offen gegenüberstehen. Besonders auf Java 1 vgl. www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type:id=2&land_id=61, 18.07.2004
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ist unter den traditionalistischen Muslimen hinsichtlich ihrer religiösen Praxis und
Rituale eine hohe Anpassung an die javanesische Umwelt zu erkennen, die viele
mystische Elemente enthält (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S. 162). Die modernistische
Strömung hingegen lässt auch individuelle reformistische Interpretationen des
Korans zu. Anhänger modernistisch orientierter Gruppen sind als Folge des
geschichtlichen Islamisierungshintergrunds Indonesiens eher an den Küstengebieten
im Westen des Landes vertreten, wo seinerzeit die Islamisierung begann. Hier
koexistieren, teilweise trotz vielfältiger Widersprüche, traditionelles und islamisches
Recht nebeneinander. Aufgrund der Vielfältigkeit der islamischen Existenz in
Indonesien, der damit einhergehenden innerislamischen Zersplitterung und der
gesellschaftlichen und religiösen Pluralität nimmt der Islam bislang eine politisch
untergeordnete Rolle ein (vgl. Schreiner (Hrsg.) 2001, S. 178).
2.2.1.2 Politische Entwicklung in Indonesien
In Indonesien vollzog sich innerhalb der letzten sechs Jahre ein enormer politischer
Wandel, weg von einer autoritären Diktatur in Richtung einer demokratischen
Regierung, die aber bislang nach wie vor sehr instabil ist. Bis zu den
Studentenaufständen im Mai 1998 wurde Indonesien von einem Militärregime unter
dem Präsidenten Suharto regiert. Innerhalb dessen 32jährigen Regierungszeit wurden
Aktivitäten oppositioneller Demokratisierungsbewegungen systematisch
unterbunden und zerschlagen. Indonesische Medien wurden zensiert und unterlagen
scharfer Kontrolle von Seiten der Regierung, Wirtschaftskonzerne befanden sich fast
ausschließlich in der Hand des Militärs oder anderer Anhänger bzw.
Familienangehöriger Suhartos. Die wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung
Indonesiens hatte unter der Orde Baru (im Deutschen: neue Ordnung) Suhartos
absolute Priorität. Allerdings entzogen sich die Unternehmen durch die
ausschließliche Besetzung von Managementpositionen mit Söhnen und anderen
Verwandten Suhartos einer öffentlichen Kontrolle und Rechenschaftspflicht. So
profitierte die indonesische Bevölkerung, abgesehen von den politischen
Machteliten, wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung. Auch ansonsten war die
Partizipation der Bevölkerung am politischen Geschehen so gut wie unmöglich, da
„andersdenkenden“ Oppositionellen bei öffentlicher Kritik an der Führungsmacht die
Todesstrafe drohte.
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Versammlungen mit mehr als 5 Teilnehmern mussten bei der Regierung angemeldet
und durch diese genehmigt werden. Allerdings wurden auch Versammlungsinhalte
streng kontrolliert und Veranstaltungen konnten ohne vorherige Verhandlung durch
die Polizei bzw. das Militär aufgelöst oder gewaltsam niedergeschlagen und
Teilnehmer inhaftiert werden.
Das Militär hatte während der Regierungszeit Suhartos eine Doppelfunktion, die der
Diktator durch die Notstandssituation Indonesiens bei seiner Machtübernahme
legitimierte. Ihm kam nicht nur eine verteidigungspolitische Rolle zu, sondern es war
darüber hinaus in gesellschaftspolitische Prozesse involviert. So war das Militär zu
einem großen Anteil in der Parlamentsfraktion vertreten und hatte auch sonst in allen
Institutionen Ministerposten inne. Folglich hatten die Streitkräfte des Landes großen
Einfluss auf alle innenpolitischen Entscheidungen (vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001,
S.52). Das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Parlament war durch eine
fast alleinige Entscheidungsgewalt Suhartos und eine Bedeutungslosigkeit des
Parlamentes gekennzeichnet.
Trotz der Härte des Regimes ist bereits in den 80er Jahren eine stark zunehmende
Gründung von Nichtregierungsorganisationen und deren nicht unbeachtlicher
Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Geschehen Indonesiens zu
verzeichnen. Auch aus Kreisen der Stundentenbewegung erfuhren diese einen
starken Zulauf, was unter anderem durch Sanktionen („Normalisierung der
Campuspolitik“) von Seiten der Regierung mitbedingt wurde. Diese Sanktion
bedeutete das Verbot jeglicher Studentenaktivitäten im sozialen und politischen
Bereich.
Ein Großteil der Nichtregierungsorganisationen verstand sich offen als Opposition
zur Machtelite, mit dem Ziel, den Machtmissbrauch des Regimes sowie Korruption,
Vetternwirtschaft und Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen,
strukturelle Veränderungen des politischen Systems voranzutreiben und die
Partizipation der Bevölkerung an gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen zu
erreichen. Sie stellten somit ein Fundament für die Entwicklung Indonesiens in
Richtung einer Demokratie dar.2
Durch die Asienkrise im Jahre 1997 und die damit verbundenen Konsequenzen für
die wirtschaftliche Situation Indonesiens erlitt die Orde Baru der Suharto-Regierung
eine erhebliche Destabilisierung. Die Arbeitslosenzahlen stiegen enorm an und die
2 vgl. www.snafu.de/watching/Dornige_Weg/kristallisierungskeime/htm, 05.04.2004
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Anzahl der unter der offiziellen Armutsgrenze lebenden Personen stieg laut einer
amtlichen Armutsstatistik auf der Basis der Verbrauchsausgaben der Haushalte von
22,5 Millionen (1996) auf 34,2 Millionen (1998).3
Im Mai 1998 kam es dann letztendlich zu Aufständen der Studentenbewegung,
welche den Rücktritt Suhartos, den Rückzug des Militärs aus dem innenpolitischen,
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, die Achtung der Menschenrechte,
demokratische Wahlen und Verfassungsreformen forderte.
Obwohl das Militär vehement versuchte, die Demonstrationen gewaltsam zu
zerschlagen, führten diese letztendlich zum Sturz Suhartos. An seine Stelle trat der
bisherige Vizepräsident Habibie, der bis zu den ersten demokratischen Wahlen im
Jahre 1999 eine Übergangsregierung bildete. Eine wesentliche Errungenschaft
Habibies war die sofortige Wiederherstellung der Pressefreiheit. Ebenfalls wurden
die möglichen Amtsperioden eines Präsidenten auf zwei Jahre beschränkt und die
Handlungsfähigkeit des Parlamentes ausgeweitet. Darüber hinaus erfolgte eine
Legalisierung der meisten politischen Parteien und Gewerkschaften (vgl. Ziegenhain
(Hrsg.) 2001, S.189). Ein weiterer wichtiger Schritt der Regierung unter Habibie war
die offizielle Gewaltenteilung von Polizei und Militär, was für die Streitkräfte einen
Machtverlust im innenpolitischen Bereich bedeutete. Allerdings unterstand die
Polizei weiterhin dem Verteidigungsministerium und somit einer militärischen
Einrichtung.
Aus den Wahlen im Juni 1999 ging die muslimische Partei unter dem neuen
Präsidenten Wahid als Sieger hervor. Bis zu seinem vorzeitigen Rücktritt im Jahre
2001 und der Ernennung Megawatis zur Präsidentin sind unter seiner Regierung
einige nennenswerte reformistische Schritte eingeleitet worden. So wurde zum ersten
Mal ein Ministerium für Menschenrechtsangelegenheiten eingerichtet. Darüber
hinaus wurde der Anteil der vom Präsidenten direkt ernannten Mitglieder der
Volksversammlung aus Reihen der Streitkräfte herabgesetzt. Jedoch war das Militär
nach wie vor überproportional an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, was
unter anderem durch seine finanzielle Macht im wirtschaftlichen Bereich bedingt war
(vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001, S.191).
In den darauffolgenden drei Jahren der Amtszeit Megawatis als Präsidentin
Indonesiens, die bis heute mit ihrer Demokratischen Partei PDI-P die Regierung
bildet, ist der Plan einer Dezentralisierung Indonesiens, der den einzelnen Provinzen
3 vgl. http://library.fes.de/fulltext/stabsabteilung/01038.htm, 11.04.2004
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mehr Mitspracherecht in politischen Entscheidungsfragen einräumt, verstärkt
vorangetrieben worden. Zum einen soll so einer monopolisierten Machtposition der
Regierung in Jakarta entgegengewirkt werden, zum anderen soll sie eine den
regionalen Bedürfnissen besser angepasste Regional- und Entwicklungspolitik und
die Berücksichtigung regionaler und lokaler Traditionen politischer
Selbstorganisation gewährleisten. Allerdings sind bis heute die den Provinzen
zugestandenen Kompetenzen weder gesetzlich eindeutig geregelt, noch sind sie
ausreichend, um eine grundsätzliche Repräsentation der Regionen zu gewährleisten (
vlg. Ellwein (Hrsg.) 2003, S.9). Das größte Dilemma, in dem sich die Regierung
befindet, ist die Tatsache, dass es seit der Wirtschaftskrise1997 nicht gelungen ist,
die wirtschaftliche Situation des Landes zu stabilisieren. Eine der Ursachen für diese
Instabilität sind nach wie vor Korruption und Vetternwirtschaft, die auch unter der
Regierung Megawatis noch weit verbreitet sind. Konsequenzen dieser
wirtschaftlichen und politischen Instabilität sind die hohe Arbeitslosigkeit,
zunehmende Verelendung, Landflucht und folglich eine damit einhergehende
Urbanisierung. Dies ruft wiederum in der Bevölkerung neue Sympathien für die
alten Kräfte des Suharto-Regimes, das sich bis zum Jahre 1997 hauptsächlich durch
einen wirtschaftlichen Aufschwung Indonesiens legitimierte, hervor.
Sowohl in der Zentralregierung als auch auf Provinzebene fehlt es aber bislang an
unabhängigen Kontrollinstanzen, die Machtmissbrauch, Korruption und strukturelle
Gewalt transparent machen und gezielt bekämpfen.
Der Einfluss des Militärs auf gesellschaftspolitische Entscheidungsfindungen ist
offiziell mittlerweile deutlich beschnitten worden. Es kommt jedoch immer wieder
zu interethnischen Spannungen und Konflikten, die gezielt durch Paramilitärs
provoziert bzw. geschürt werden, um so die innenpolitische Lage des Landes zu
destabilisieren und sich erneut eine gesellschaftspolitische Machtposition zu sichern
(vgl. Ziegenhain (Hrsg.) 2001, S.128).
Was die Menschenrechtspolitik der derzeitigen Regierung angeht, so ist die Achtung
der Menschenrechte zwar gesetzlich verankert, jedoch werden „im nationalen
Menschenrechtsgesetz festgeschriebene Rechte, wie die Freiheit von
Einschüchterung, willkürlicher Verhaftung, Gewalt, Diskriminierung, Folter und
erniedrigender Behandlung etc., nahezu täglich verletzt“ (Ziegenhain (Hrsg.) 2001,
S.194). Aufgrund von käuflichen Richtern bzw. Gerichten und des mangelnden
Bewusstseins der Bevölkerung über ihre Individualrechte kommt es bis heute in den
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meisten Fällen nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung von
Menschenrechtsverletzungen. So wurden auch unter einem im Jahre 2000 von der
Regierung in Jakarta einberufenen Tribunal zur Aufklärung des von
proindonesischen Milizen angerichteten Massakers in Osttimor, bei dem ein- bis
zweitausend Osttimoresen ermordet und 250.000 vertrieben wurden, bislang alle
mitbeteiligten indonesischen Militär- und Polizeioffiziere freigesprochen (vgl. TAZ,
11.08.2004)
Für das Gelingen der weiteren Demokratisierung Indonesiens ist zunächst einmal der
vollständige Rückzug des Militärs auf den verteidigungspolitischen Bereich, die
systematische Bekämpfung der Korruption, die Entwicklung eines demokratischen
Selbstverständnisses sowohl der Politik als auch der Bevölkerung unerlässlich.
Dieses Selbstverständnis kann aber nur entstehen, wenn
Menschenrechtsverletzungen vollständig aufgeklärt und grundsätzlich strafrechtlich
verfolgt werden und sowohl politische Institutionen als auch das Militär an
humanitäre Normen gebunden werden. Entscheidend für die politische Zukunft
Indonesiens wird auch der Ausgang der voraussichtlich im September 2004
stattfindenden Stichwahl um den Kandidaten des Präsidentschaftsamtes sein. Die am
5. Juli stattgefundene Wahl war die erste demokratische Präsidentschaftswahl in der
Geschichte Indonesiens. Kandidat/innen für das Amt sind die jetzige Präsidentin
Megawati und der ehemalige Militärgeneral Susilo Bambang Yudhoyono, der die
erste Runde der Wahl am 5. Juli mit 33,6 % für sich entschied. Megawati erhielt rund
26,6 % der Stimmen, eng gefolgt von dem ehemaligen Armeechef Wiranto (22,2 %),
der für etliche Kriegsverbrechen in Osttimor verantwortlich gemacht wird (TAZ,
22.07.2004). Aus der zuvor im April diesen Jahres stattgefundenen Parlamentswahl
ging die Golkar-Partei des ehemaligen Diktators Suharto mit 20,85 % der
Wählerstimmen als Sieger hervor (Jakarta Post, 15.04.2004).
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2.2.1.3 Kindheits-, Gemeinschafts- und Familienverständnis auf Java /
Indonesien
Genauso wenig wie es im religiösen Bereich möglich ist, so kann aufgrund einer
Vielfalt unterschiedlicher gesellschaftlicher Strömungen und einer kontinuierlichen
gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, in deren Kontext sich eben auch die
Familie als soziales System und Teil der Gesellschaft in einem fortwährenden
Prozess befindet, auch nicht von dem indonesischen Familiensystem gesprochen
werden. Dennoch möchte ich hier versuchen, einige charakteristische Merkmale des
traditionellen indonesischen Kindheits- und Familienverständnisses herauszustellen,
um die Bedeutung darauf gründender Normen und Werte veranschaulichen zu
können. Bei meiner Darstellung beziehe ich mich insbesondere auf das javanesische
Kindheits- und Familienverständnis, da die Lebenswelt der obdachlosen Kinder und
Jugendlichen in Yogyakarta erheblich durch diese Verständnisse mitbeeinflusst war,
und da ich bei meiner Arbeit in Zentral-Java im Wesentlichen mit Normen und
Werten dieses Kulturkreises konfrontiert war. Durch diese Eingrenzung möchte ich
vermeiden, mich allzu großer Verallgemeinerungen und Vereinfachungen bezüglich
meiner Aussagen über die indonesische Kultur zu bedienen. Das Kindheits- und
Familienverständnis in Indonesien sollte jedoch vor dem Hintergrund der Bedeutung
des Individuums in der Gesellschaft betrachtet werden. So ist in der indonesischen
Gesellschaft im Unterschied zu eher individualistisch geprägten Kulturen (vgl.1.3.1)
vergleichsweise eine stärker interdependente Orientierung des Individuums zu
verzeichnen. Das heißt, das Subjekt sieht sich selbst als Teil umfassender sozialer
Beziehungen, deren Belange häufig vor die eigenen gestellt werden.
„So werden als wesentliche Prinzipien der javanesischen Kultur in Indonesien [...] die
Harmonie in sozialen Gruppen und die Unterordnung des Einzelnen unter die
Interessen der Gemeinschaft betont“ (Trommsdorff 2002, S. 398).
Das javanesische Gemeinschafts- und Familienverständnis
Das javanesische Familiensystem hat innerhalb der indonesischen Gesellschaft einen
sehr hohen Stellenwert, da es die wichtigste Primärgruppe darstellt, wobei es im
traditionellen Sinne die Großfamilie bezeichnet. So wird der Familienverband relativ
unabhängig von der gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit als größtmögliche
Sicherheit verstanden, indem er durch stabile Familienbeziehungen eine
Orientierungshilfe darstellt. Ebenfalls zeichnet er sich durch das Prinzip
gegenseitiger Hilfe und Solidarität innerhalb des Verbandes aus.
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In diesem Familienverband im traditionellen Sinne nimmt meist der Mann den Status
des Familienoberhauptes ein, während aber die Frau im Allgemeinen als Person mit
dem größten Einfluss auf die Familienstruktur gilt. Sie steht im Mittelpunkt der
Familie, und sowohl die Hausarbeit als auch die Erziehung der Kinder fällt im
Wesentlichen in ihren Aufgabenbereich. Dennoch arbeiten javanesische Frauen und
Mütter vielfach außerhalb des Hauses, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu
gewährleisten. In vielen Fällen sind sie daher ökonomisch relativ unabhängig vom
Einkommen des Mannes.
Sowohl das javanesische Familien- als auch das Gesellschaftssystem zeichnet sich
wesentlich durch ein starkes Harmoniebestreben innerhalb des Systems aus. So
werden emotionsbetonte Auseinandersetzungen und Konflikte weitestgehend zu
vermeiden versucht, um so ein harmonisches Zusammenleben zu gewährleisten.
Ebenfalls ist das zur Schau stellen von Affektivitäten zwischen Erwachsenen
gesellschaftlich tabuisiert. Wesentliche sozial und gesellschaftlich anerkannte und
regulierende Kommunikations- und Interaktionsnormen sind darüber hinaus hormat
(im Deutschen: Respekt) und kesopanan (im Deutschen: Höflichkeit), insbesondere
gegenüber älteren Personen4, weil diese Erfahrung, Wissen und Weisheit
repräsentieren.
So schreibt Hadar zur Funktion der kommunikativen Umgangsformen:
„Dabei erfüllen die Umgangsformen die Aufgabe, die innere Harmonie auf den
Interaktionsprozess zu übertragen. Sie gewährleisten die äußere Harmonie, indem sie
die Möglichkeit geben, das Aufkommen von Gefühlen zu verbergen [...] Die
javanesische Sprache ist das Instrument sozialer Differenzierung. Gesprächston,
Aussprache, Betonung, Sprachebene und Inhalt ergeben ein System statusgebundenen
Ausdrucks, durch das jede soziale Beziehung angemessen definiert werden kann“
(Hadar 1999, S. 81-82).
Ein weiterer Bestandteil der Interaktion ist das pura-pura (im Deutschen: „so-tun-
als-ob“). Dieses Vortäuschen ist in diesem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext
keinesfalls negativ bewertet, sondern stellt vielmehr eine legitime Möglichkeit dar,
unangenehme und beschämende (Konflikt)situationen zu vermeiden, die zu einem
„Gesichtsverlust“ führen können.
4 Ausdruck dafür sind unter anderem eine Vielzahl verschiedener Formen der Anrede, die abhängig sind von Alter, gesellschaftlichem Status und Beziehung der Interaktionspartner.
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So ist das Gemeinschaftsleben wesentlich durch das Bestreben einer harmonischen
Einheit, gegenseitige Anerkennung von Differenzen und Zusammenhörigkeit
geprägt, in dem offene Konflikte fast vollständig fehlen (vgl. Hadar 1999, S. 81).
Kindheit, Erziehung und Sozialisation
Im javanesischen Familienverbund sind Kinder ein bedeutsamer Bestandteil, da sie
in Ermangelung von Sozial- oder Krankenversicherungen als Versorger der älteren
Generation gelten, für deren Überlebenssicherung sie im Erwachsenenalter zuständig
sind. Zunächst werden Kinder noch als unwissende und unfertige Wesen angesehen,
die kulturell und gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen, Normen und Werte
erst erlernen müssen, um sich wie ein orang java, ein erwachsener Javaner zu
verhalten. Bereits in der frühen Sozialisation lernen sie, „dass sie nur in
Abhängigkeit der Gemeinschaft [...] ein sozial anerkanntes und glückliches Leben
führen können“ (Kallauch-Stock 1992, S. 109). Das Kind lernt im Familienverbund,
sich als Teil seiner sozialen Beziehungen zu begreifen, in denen es sich zunächst
unterordnet und den gesellschaftlichen Normen entsprechend assimiliert. Die
traditionelle Erziehung zu kollektiver Solidarität schließt daher für das Individuum
das Streben nach Selbstverwirklichung und privater Bereicherung aus.
Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist unmittelbar nach der Geburt eine
ausgeprägt symbiotische. Dies gründet sich mitunter auf die javanesische
Auffassung, dass ein Baby extrem anfällig für Schocks ist, welche die eigenen
Schutzmechanismen herabsetzen und zu Krankheit und Tod führen können. Daher
widmet sich die Mutter nach der Geburt zunächst völlig dem Säugling, der sich
sowohl tagsüber als auch nachts in unmittelbarer Nähe der Mutter befindet. Nachts
schläft er neben der Mutter, tagsüber wird er in einem Tragetuch am Körper der
Mutter getragen und in entspannter und sanfter Art und Weise behandelt (vgl. Hadar
1999, S.83).
Während der ersten Lebensjahre werden an das Kind noch keine Anforderungen
gestellt und ihm wird innerhalb des Familienverbundes soviel Freiheit wie möglich
gelassen, da davon ausgegangen wird, dass es die gesellschaftliche Ordnung noch
nicht versteht. Erst im Alter von fünf bis sechs Jahren wird von ihm erwartet, dass es
beginnt, die Ordnung zu erlernen und seine eigene Stellung in der Gemeinschaft zu
erkennen. So wird es ab diesem Alter vermehrt durch die Familie in wirtschaftliche,
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politische, religiöse und kulturelle Aktivitäten eingeführt, um ab diesem Zeitpunkt
Normen und Werte der javanesischen Gesellschaft zu erlernen und zu beachten.
Darüber hinaus wird das Kind auch bei seinem Schuleintritt mit dem javanesischen
Normen- und Wertesystem bekannt gemacht, was mit der Erwartung verbunden ist,
dass bestehende Hierarchien respektiert und anerkannt werden, dass das Kind sich in
Selbstkontrolle und gesellschaftlich anerkannten Umgangsformen übt und lernt,
Aggressionen zu unterdrücken. Ärger und Frustration über von den Normen
abweichendes Verhalten wird in der Regel eher auf passive Art und Weise geäußert,
indem die Interaktion mit dem Betroffenen von seinen Bezugspersonen - Einzelnen
oder einer ganzen Gruppe - unterbrochen und der Betroffene ignoriert wird (vgl.
Kallauch-Stock 1992, S. 112). So soll das Kind lernen, abweichendes Verhalten zu
vermeiden, um sich in die Gemeinschaft integrieren zu können.
Allerdings gibt es in der Erziehung durch das Familiensystem geschlechtspezifische
Unterschiede: So werden an Mädchen im Allgemeinen geringere Anforderungen
hinsichtlich des Erlernens und der Beachtung gesellschaftlicher Interaktionsnormen
gestellt als an Jungen. Sie wachsen fast nahtlos in die Welt der Frauen hinein und
werden von der Frauengruppe akzeptiert, indem sie lernen, entsprechende
Arbeitsleistungen und Tätigkeiten zu vollbringen (vgl. Hadar 1999, S.79). Der
Sozialisationsprozess der Jungen hingegen findet in zunehmender Unabhängigkeit
von der Familie statt und ist mit der Erwartung der Integration und Anpassung sowie
der Anerkennung des javanesischen Normen- und Wertesystems verbunden.
Bei der Annahme traditioneller Normen und Werte stellen sowohl die Familie als
auch die Dorfgemeinschaft primäre Sozialisationsinstanzen dar. Wesentliche Ziele
der traditionellen javanesischen Erziehung sind die Reproduktion und
Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die durch das Normen- und
Wertesystem repräsentiert wird. Erziehung vollzieht sich im Wesentlichen durch die
Förderung der Fähigkeit des Kindes, beobachtete Verhaltens- und Umgangsformen
der Erwachsenen nachzuahmen. Das heißt, man erwartet zunehmend von ihm, durch
eigene Beobachtung zu lernen und zu verstehen.
„Das Verhältnis javanesischer Eltern zu den Kindern begründet sich auch darauf, dass
Erziehung inhaltlich keiner Legitimation bedarf. Sie kommt nicht auf der Basis einer
persönlichen Entscheidung zustande, sondern wird aufgrund einer feststehenden,
durch die Gesellschaft repräsentierten Ordnung vollzogen; die Verantwortung der
Eltern im Hinblick auf die Reproduktion der Ordnung unterbindet Fragen, die die
Ordnung selbst in Frage stellen“ (Hadar 1999, S.84)
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Im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs und gravierender politischer
Veränderungen haben sich aber auch die eingangs von mir dargestellten
traditionellen Bedeutungsmuster, die Rolle der Familien und das Bild von Kindheit
verändert. So ergaben sich innerhalb dieses Prozesses Widersprüche innerhalb der
bislang gültigen Normen- und Wertesysteme, die unter der Militärdiktatur bis 1998
durchaus Bestand hatten. Mit der kapitalistischen Vergesellschaftung Indonesiens
gehen auch veränderte Lebensbedingungen sowie neue Formen und Inhalte der
familiären Sozialisation einher, wodurch wiederum auch neue Identifikationsmodelle
entstehen. So werden auch in den Medien verstärkt sogenannte „westliche“ Ideale
wie Individualität, Selbstverantwortung und Unabhängigkeit vermittelt, und im Zuge
dessen traditionelle Systeme und Bedeutungsmuster brüchig und in Frage gestellt.
Familien befinden sich somit häufig in dem Dilemma, einerseits traditionelle Werte
aufrecht erhalten zu wollen, da sie diese für ihre Kinder als wichtig erachten,
während sie andererseits verstärkt vor die Anforderung gestellt werden, in einer sich
zunehmend entwickelnden kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft bestehen zu
können. Somit befindet sich das traditionelle gesellschaftliche Normen- und
Wertegefüge in einem Prozess der Transformation, indem mit dem politischen,
gesellschaftlichen und kulturellen Wandel traditionelle Vorstellungen in ihrer
Bedeutung dekonstruiert und unter Umständen neu definiert werden müssen.
Aufgrund der in der indonesischen Gesellschaft häufig bevorzugten „sowohl-als-
auch“ – Betrachtungsweise anstelle eines „entweder-oder“ – Prinzips (vgl. Hadar
1999, S.13) ist jedoch durchaus in vielen Fällen eine Koexistenz von traditionellen
Werten und sogenannten „westlichen“ Idealen möglich, obgleich sie in vieler
Hinsicht widersprüchlich erscheinen mögen.
2.2.1.4 Das indonesische Bildungswesen
Das indonesische Bildungssystem ist dreistufig aufgebaut, das heißt, das staatliche
Schulwesen ist unterteilt in einen sechsjährigen Primarschulbereich und einen daran
anschließenden sechsjährigen Sekundarschulbereich, der sich in zwei Bereiche von
je drei Jahren Dauer gliedert – die Unterstufe und die Oberstufe (vgl. Hadar 1999,
S.99). Im Unterschied zum Primarschulbereich weist der Sekundarschulbereich eine
große Vielfalt an überwiegend religiösen Privatschulen auf, die den staatlichen
Schulen qualitativ meist überlegen sind. Im Jahre 1994 wurde die allgemeine
Schulpflicht von ehemals sechs Jahren auf neun Jahre erhöht. Als vordringlich
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nationales Bildungsziel in dem sprachlich und ethnisch pluralistischen Land gilt die
Verbreitung der Bahasa Indonesia als Landessprache. Die Analphabetenrate der
indonesischen Bevölkerung ist im Vergleich zu Indien, wo sie bei rund 50% liegt
(vgl. Information zur politischen Bildung 1997, S.13), mit etwa 10% relativ niedrig.5
Dennoch bleibt nach Aussagen der Tageszeitung Jakarta Post im Jahre 2001 rund
7,5 Millionen schulpflichtigen Kindern in Indonesien der Schulbesuch aufgrund
hoher Ausbildungskosten wie Schulgelder, Registrierung, Unterrichtsmaterial und
Uniformen verwehrt. Weitere 8,5 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter waren
zur gleichen Zeit von einem Schulabbruch bedroht (vgl. Indonesien Information
Nr.1, 2002, „Die Lage der Kinder in Indonesien“). Mboeik und Huber sprechen in
ihrem Artikel von einer verschleierten Form der Privatisierung des Bildungswesens
(vgl. Indonesien Information Nr.1, 2002). Über das Problem des Kostenaufwandes
hinaus, der nötig ist, um die Finanzierung einer Schulbildung zu ermöglichen, bedarf
es im indonesischen Schulsystem Reformen bezüglich der Kurrikula und der
Lehrerausbildung, um die Bildungsinhalte und –bedingungen effizient und
nachhaltig zu verbessern6. So ist das Bildungswesen Indonesiens trotz eines
Delegationsprinzips, das eine Verteilung der Aufgaben an die einzelnen
Provinzverwaltungen vorsieht, nach wie vor durch das Erziehungsministerium
zentralistisch organisiert und geleitet. Dies hat wiederum aufgrund der Heterogenität
des Landes zufolge, dass Bildungsinhalte häufig mit den lokal sehr unterschiedlichen
Lebensrealitäten und beruflichen Ausgangsbedingungen der Schüler divergieren.
Während der Zeit des Suharto-Regimes wurden Bildungsinhalte stark durch die
Regierung kontrolliert und der Unterricht wurde „entpolitisiert“, um ungewünschte
Ideologien zu bekämpfen. Statt dessen wurde die Staatsphilosophie Pancasila als
Pflichtfach in die Lehrpläne aller Schulen eingeführt (vgl. Hadar 1999, S. 101).
Darüber hinaus wurde das Bildungssystem weitgehend von westlich orientierten,
teilweise aus der Kolonialzeit übernommenen Inhalten bestimmt und auf die
Qualifizierung von Arbeitskräften für den wirtschaftlichen Sektor ausgerichtet. So
spiegelt es bis heute Strukturen und Inhalte westlicher Industriegesellschaften wider
und ist stark orientiert an den Interessen der nationalen Eliten, während es den lokal
unterschiedlichen Erfordernissen nicht gerecht wird, da es keine oder nur wenige
Berührungspunkte mit der reellen Lebenssituation eines Großteiles der Bevölkerung
5 vgl. www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=13&land_id=61, 18.07.2004 6 vgl. www.ems-online.org/_texte/indonesien/IndonesienBildungskrise.htm, 14.04.2004
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aufweist. Darüber hinaus widerspricht die vorwiegend nach dem Modell der
Industriestaaten ausgerichtete Bildungspolitik, durch die Leistungs- und
Konkurrenzfähigkeit gefördert werden sollen, dem traditionellen Stellenwert des
Individuums in der Gemeinschaft. Mit den Worten Hadars ausgedrückt „knüpft die
Institution Schule nicht an die Ergebnisse der primären Sozialisation an, sondern
organisiert auch das soziale Lernen weitgehend konträr zu den Ergebnissen
frühkindlicher Sozialisation“ (Hadar 1999, S.175). In diesem gesellschaftlichen
Kontext betrachtet arbeitet die Institution Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz
somit gegenläufig zu Inhalten und Strukturen der primären Sozialisation.
Eine bedeutende Rolle hinsichtlich reformistischer Bildungspolitik spielen in
Indonesien besonders in ländlichen Regionen allerdings autonome islamische
Lerngemeinschaften, sogenannte Pesantren, auf die ich aber aufgrund deren
geringerer Relevanz im Zusammenhang mit dem von mir beobachteten urbanen
Kontext nicht näher eingehen werde (ausführlich in: Hadar 1999).
2.2.1.5 Die Straße als Lebensraum und Sozialisationsort
Im folgenden Punkt möchte ich zunächst das soziale Feld, den Lebensraum Straße, in
dem ich meine Beobachtungen durchgeführt habe, näher beschreiben. Hierbei werde
ich mich verstärkt auf den Alltag der dort lebenden Kinder beziehen, mit denen ich
zu tun hatte, und deren Lebenswelt in diesem Teil der Arbeit im Mittelpunkt stehen
wird. An dieser Stelle möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass die Erkenntnisse
meiner Beobachtungen sich auf einen zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen
beschränken. Die Informationen über biographische Kontexte der auf der Straße
lebenden Personen entstammen sowohl deren eigenen Angaben als auch denen von
Mitarbeitern unterschiedlicher Nichtregierungsorganisationen. Ausgehen möchte ich
bei dieser Beschreibung von meinem Zugang zum sozialen Feld bzw. meinem ersten
Kontakt zu den Kindern, wobei ich einleitend mein Beobachtungsfeld kurz in seinen
geographischen Kontext einordnen werde.
Zur Stadt Yogyakarta
Yogyakarta ist eine indonesische Stadt auf Java, der bevölkerungsreichsten Insel
Indonesiens. Sie liegt in der Provinz Zentral-Java, etwa 27 Kilometer entfernt vom
indischen Ozean. Schätzungen über die Einwohnerzahl Yogyakartas variieren stark.
Nach Angaben der Encarta Enzyklopädie liegt sie bei rund 412.000 (vgl. Encarta
90
Enzyklopädie 2001). Allerdings ist eine genaue Angabe aufgrund fehlender
Registrierung zugezogener Einwohner kaum möglich. Bis 1950 diente Yogyakarta
als provisorische Hauptstadt des Landes, bis sie in dieser Funktion durch Jakarta
abgelöst wurde (vgl. Encarta Enzyklopädie 2001). Bis heute ist Yogyakarta ein
Sultanat, wodurch es innerhalb der Provinz Zentral-Java eine eigene Spezialprovinz
bildet.
Yogyakarta ist ein Zentrum für Batikkunst und anderes Handwerk sowie für Tanz
und Theater und somit eines der bedeutendsten kulturellen Zentren Indonesiens. Ein
Großteil der Einwohner ist im informellen Sektor tätig oder lebt vom
Kunsthandwerk, insbesondere der Herstellung von Batiken. Innerhalb der Stadt
befinden sich drei Universitäten sowie eine Kunstakademie.
Der Lebensraum „Straße“
Bevor ich zur genaueren Beschreibung des Lebensraums „Straße“ komme, möchte
ich zunächst eine grobe Darstellung meines ersten Zugangs zu meinem
Beobachtungsfeld und des weiteren Verlaufes meiner Beobachtung vornehmen, um
somit die Ausgangsposition und meine Vorgehensweise zu verdeutlichen, auf deren
Grundlage meine weiteren Ausführungen basieren:
Der erste Zugang zu meinem Beobachtungsfeld und damit zu den Kindern wurde mir
durch eine Mitarbeiterin der indonesischen Nichtregierungsorganisation Indriyanati
ermöglicht, die seit einigen Jahren in regelmäßigem Kontakt zu ihnen steht. Sie
begleitete mich zu der Kreuzung Gondomanan im Zentrum Yogyakartas, an der
einige der Kinder und Jugendlichen überwiegend leben. Durch die Begleitung der
Mitarbeiterin wurde mein erstes Kennenlernen mit den Kindern wesentlich
erleichtert, da sich mir einerseits durch anfängliche Verständigungsprobleme,
bedingt durch mangelnde sprachliche Kenntnisse, aber andererseits auch aufgrund
meiner eigenen anfänglichen Unsicherheit einige Barrieren in den Weg stellten.
Bislang hatte ich nur wenig Vorstellung von dem Leben der Kinder auf der Straße
und konnte mir somit im Vorfeld kein Bild davon machen, wie die Kinder und
Jugendlichen auf mich als europäische Studentin reagieren würden. Ebenso unsicher
war ich mir im Hinblick darauf, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten sollte – war
ich mir doch bewusst darüber, dass diese Kinder in ihrer Lebenswelt wahrscheinlich
gar nicht meinem durch europäische Definitionen bestimmten Vorverständnis von
„Kindheit“ als Schonraum und den daraus hergeleiteten Erwartungen an einen
91
Erwachsenen hinsichtlich seiner Beziehung zu ihnen entsprechen würden. Wie sich
im Weiteren zeigen wird, entsprachen sie aber ebenso wenig meinem
Vorverständnis, das ich von auf der Straße lebenden Kindern hatte.
Bei meinem ersten Besuch an der Straßenkreuzung traf ich auf etwa zehn Kinder und
Jugendliche, denen ich durch die oben erwähnte Mitarbeiterin von Indriyanati
vorgestellte wurde. Dieser erste Kontakt gestaltete sich so, dass mir zunächst etliche
Fragen über meine Herkunft, mein Leben in Deutschland und die Absicht, mit der
ich zu ihnen gekommen sei, gestellt wurden. Ich legte mein Vorhaben offen, indem
ich ihnen mitteilte, dass ich Studentin sei und nach Yogyakarta gekommen sei, um
etwas über ihr Leben und ihre Situation auf der Straße zu erfahren. Diese offene
Vorgehensweise hinsichtlich meiner Absichten rief bei den Kindern und
Jugendlichen zunächst sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Besonders die
Älteren unter ihnen traten mir zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Auf diese
erste Abwehrreaktion mir gegenüber werde ich in Punkt 2.2.2.3 noch weiter
eingehen.7 Von sich und ihrer Situation auf der Straße erzählten die Kinder und
Jugendlichen bei unseren ersten Zusammenkünften noch wenig.
In den darauffolgenden Monaten verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit damit,
die auf der Straße lebenden Personen an deren Aufenthaltsorten, der
Straßenkreuzung und der Jalan Malioboro aufzusuchen. Schnell kam ich während
meiner Beobachtungen zu der Erkenntnis, dass nicht ich, sondern die Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen in diesem Kontext die „Mehrwisser“ waren, auf die
ich zunächst angewiesen war, um ihre Lebenswelt in ihrer Komplexität ansatzweise
kennen- und verstehen zu lernen. Im Verlauf meines Aufenthaltes begann ich, ihre
Sprache, ihre Lieder, in denen sie über ihr Leben auf der Straße erzählen, zu erlernen
und im Ansatz zu verstehen8, was für mich eine grundlegende Basis für den Aufbau
einer Beziehung und meinen täglichen kommunikativen Austausch mit den auf der
Straße lebenden Personen darstellte.
Bevor ich im Folgenden zu einer Beschreibung meines Beobachtungsfeldes, der
Straße als Lebensraum, komme, möchte ich hier darauf hinweisen, dass die Straße im
indonesischen Gesellschaftskontext eine andere Bedeutung hat als beispielsweise in
7 Die dadurch hervorgerufenen methodologischen Schwierigkeiten und Überlegungen hinsichtlich ethischer Ansprüche werde ich in der Reflexion meiner Position als teilnehmende Beobachterin ausführlich darzustellen. 8 Auf die Bedeutung ihrer Lieder, ihre eigenen Kommunikationsformen und die gruppenintern geltenden Regeln, Normen und Werte werde ich im nächsten Punkt 2.2.2.2 genauer zu sprechen kommen.
92
der deutschen Gesellschaft. So wird sie von einer Gruppe indonesischer
Anthropologen als „Arena der sozialen Interaktion“ beschrieben, in der sich ein
beträchtlicher Teil des Lebens abspielen kann, sowohl im ökonomischen als auch im
sozialen Bereich (vgl. Laksana u.a. 2000, S.3). Sie wird in unterschiedlicher Art und
Weise zu fast jeder Tageszeit genutzt. In diesem Kontext ist daher keine scharfe
Trennung zwischen dem Innenraum als Privatbereich und dem Außenraum als
öffentlichem Bereich zu verzeichnen, wodurch die Straße durchaus mitunter als
legitimer Lebensraum betrachtet werden kann.
Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta hatte ich hauptsächlich mit etwa 30 bis
35 auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen9 im Alter von
ca. 8 Jahren bis 26 Jahren10 zu tun. Fast ausschließlich handelte es sich hierbei um
Jungen bzw. Männer. Sie alle haben aus vielfältigen und individuell
unterschiedlichen Gründen, auf die ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher
eingehen werde, ihre Eltern bzw. Familien verlassen oder verloren. Das heißt, sie
leben ohne jegliche Einbindung in ein Familiensystem im traditionellen Sinne. Die
Jugendlichen und Erwachsenen unter ihnen leben bis auf wenige Ausnahmen alle seit
ihrer Kindheit auf der Straße. Die Gruppe der Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen ist hinsichtlich ihrer ursprünglichen Herkunft, ihrer ethnischen
Zugehörigkeit und ihres individuellen biographischen Kontextes sehr heterogen.
Viele von ihnen lebten ursprünglich auf anderen Inseln des Landes und kamen
zunächst, bevor sie ein Leben auf der Straße begannen, meist bedingt durch
ökonomische und infrastrukturelle Unterentwicklung der jeweiligen Inseln und damit
einhergehender Arbeitslosigkeit und materieller Armut oder als
Bürgerkriegsflüchtlinge zusammen mit Eltern und Familienangehörigen nach Jakarta
oder in andere Städte Javas. Einige der Kinder wurden aber auch erst in Jakarta
geboren. Andere wiederum trennten sich bereits an ihrem ursprünglichen
Herkunftsort von ihren Familien und machten sich von dort aus allein auf den Weg
nach Java. Lediglich zwei der mit mir in Beziehung stehenden Personen stammten
ursprünglich aus der unmittelbaren Nähe Yogyakartas. Nur wenige der Kinder, zu
denen ich während meiner Beobachtungen Kontakt hatte, haben jemals eine
Regelschule besucht.
9 Aufgrund der hohen Komplexität des Feldes (vgl. Lamnek 1995) und einer relativ großen Fluktuation kann ich keine eindeutigen Angaben zur Anzahl der von mir beobachteten Kinder und Jugendlichen machen. 10 Da einem Großteil der Kinder ihr genaues Alter nicht bekannt ist, gehen diese Angaben aus ihren etwaigen Angaben und meinen eigenen Schätzungen hervor
93
Die Gründe der auf der Straße lebenden Personen, ihre Familien zu verlassen und ein
Leben auf der Straße vorzuziehen, variieren individuell sehr stark, weisen aber
teilweise auch Parallelen auf. So herrschte bei einem Großteil der Kinder ein durch
innerfamiliäre Gewalt geprägtes und autoritäres Klima vor, das in vielen Fällen
durch ökonomische Notlagen mitbedingt war. Auch konnte ihnen durch die Familien
weder in ökonomischer noch in emotionaler Hinsicht Unterstützung geboten werden.
Eine zentrale Motivation zu dem Entschluss, auf der Straße zu leben, den mir
gegenüber fast alle Kinder übereinstimmend hervorhoben, war neben der Suche nach
besseren Lebensbedingungen kebebasan - in Freiheit leben zu können.
Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen ich in Beziehung stand,
gehörten fast ausschließlich der keluarga besar GirLi, einem Zusammenschluss auf
der Straße lebenden Personen an. Keluarga besar bedeutet übersetzt ins Deutsche
„große Familie“. Die Bezeichnung GirLi setzt sich aus den Worten pinggir (im
Deutschen: Rand) und kali (im Deutschen: Fluss) zusammen. Die Bedeutung dieser
Worte geht aus dem Kontext hervor, dass in indonesischen Städten die Menschen aus
den ärmsten Schichten der Bevölkerung sich vermehrt an den Flussufern ansiedeln11.
Der Ursprung des Zusammenschlusses der Kinder zur keluarga besar GirLi liegt in
den Anfängen der 80er Jahre. Auf die Struktur und Bedeutung dieses sozialen
Netzwerkes werde ich in Punkt 2.2.1.7 näher eingehen. Zuvor werde ich aber
versuchen, den Lebensraum „Straße“ und den Alltag der dort lebenden Personen
näher zu beschreiben. An dieser Stelle ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass ich
hierbei gezwungenermaßen Ausschließungen und Vereinfachungen vornehme, um
eine grobe Struktur in der Vielfalt von Ereignissen und täglich unterschiedlichen
Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen erkenntlich werden zu lassen. Meine
Absicht ist es aber keineswegs zu homogenisieren.
Meine teilnehmende Beobachtung führte ich hauptsächlich an den zwei oben bereits
erwähnten überwiegenden Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen, zu denen
ich Kontakt hatte, durch – an der Straßenkreuzung Gondomanan im Zentrum der
Stadt und auf der Jalan Malioboro, der Haupteinkaufsstraße Yogyakartas. Von
morgens bis nachmittags hielten sich zur Zeit meines Aufenthaltes fast täglich alle
der Kinder und Jugendlichen an der Kreuzung auf, während sich nachts die Gruppe
auflöste – einige der Kinder und Jugendlichen schliefen mehr oder weniger
11 Aus diesen Anfängen der Selbstorganisation heraus entstand im Jahre 1990 die Nichtregierungsorganisation HUMANA, auf die ich in Punkt 2.2.1.8 der Arbeit noch weiter eingehen werde.
94
regelmäßig auf Containern der Straßenhändler am Rand der Jalan Malioboro, andere
am Rande der Kreuzung12. Oftmals wechselten sie aber auch nachts noch ihren
Aufenthaltsort. Als sanitäre Anlagen nutzten sie öffentliche Toiletten, die sich in der
Nähe ihrer Aufenthaltsorte befanden.
Tagsüber bestimmte größtenteils die Arbeit den Alltag der Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen, wobei ich keine scharfe zeitliche und räumliche Trennung zwischen
Arbeit und Freizeit wahrnehmen konnte. Grundsätzlich waren ihre Arbeitszeiten
stark anihrer aktuellen Bedürfnislage ausgerichtet. Die meisten von ihnen arbeiteten
tagsüber als pengamen (im Deutschen: Straßenmusiker). Meist begannen sie
morgens nach dem Aufwachen in haltenden Bussen und an den Fenstern
vorbeifahrender Autos an der Kreuzung Musik zu machen13. Einige der Kinder
verdienten ihr Geld in den Abendstunden aber auch häufig als Schuhputzer oder
Tellerwäscher. Das im Tagesverlauf gemeinsam erwirtschaftete Geld diente zunächst
der aktuellen Befriedigung der Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, ihren
Tagesbedarf an Nahrungsmitteln, Zigaretten und Alkohol zu decken. Das verdiente
Geld gehörte der Gemeinschaft, das heißt, es wurde zusammengelegt und geteilt.
Während ihrer Arbeit herrschten durchweg rege Interaktion zwischen den Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen.
Gegen Abend versammelten sich die Kinder und Jugendlichen häufig an der
Straßenkreuzung, oder auch auf der Jalan Malioboro, wo sie gemeinsam tranken,
aßen, Musik machten und sich über aktuelle Ereignisse austauschten. Die Wahl ihres
abendlichen Aufenthaltsortes war dabei stark mitbestimmt durch aktuelle situative
Faktoren. So kam es beispielsweise während meines Aufenthaltes in Yogyakarta an
der Kreuzung Gondomanan oftmals zu gewaltsamen Übergriffen durch die
städtische Polizei, sogenannten „Säuberungsaktionen“, bei denen die sich dort
aufhaltenden Kinder geschlagen, in Erziehungsanstalten der Regierung gebracht oder
vorübergehend inhaftiert wurden (ausführlicher in 2.2.1.6). Daher verlagerten sie ihre
nächtlichen Aufenthalte situationsbedingt häufig an andere Plätze.
Durch meine intensiven Beziehungen zu den Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen auf der Straße, die sich im Verlauf meiner Beobachtungen
12 Die jüngeren der Kinder bis zum Alter von ca. 17 Jahren bekamen im Dezember 2003 einen „Nightshelter“ in Nähe der Kreuzung von der Nichtregierungsorganisation HUMANA zur Verfügung gestellt, in dem sie von diesem Zeitpunkt an häufig übernachteten. 13Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta stand allerdings ein jährlich von den Kindern organisiertes Festival bevor, auf das ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer eingehen werde, so dass viele von ihnen tagsüber mit organisatorischen Vorbereitungen beschäftigt waren.
95
entwickelten, bekam ich ebenfalls Kontakt zu verschiedenen indonesischen
Nichtregierungsorganisationen, in deren Arbeit ich einen Einblick gewinnen konnte
und deren Arbeitsschwerpunkte und Konzepte in Punkt 2.2.1.8 der Arbeit noch eine
Rolle spielen werden.
Im folgenden Punkt werde ich versuchen, einige zentrale Probleme herauszuarbeiten,
mit denen die in Yogyakarta auf der Straße lebenden Personen während meines
Aufenthaltes konfrontiert waren. Dabei stütze ich mich auf Erkenntnisse, die ich
während meiner Beobachtungen hauptsächlich durch die Kinder, aber auch durch die
Zusammenarbeit mit Mitarbeiter/innen von in Yogyakarta tätigen
Nichtregierungsorganisationen, gewonnen habe.
2.2.1.6 Zentrale Probleme im Lebensalltag auf der Straße
Während der Zeit meiner teilnehmenden Beobachtung in der Lebenswelt der auf der
Straße lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen habe ich einige zentrale
Probleme im Zusammenleben auf der Straße erkennen können, mit denen die
betroffenen Personen in ihrem Alltag häufig konfrontiert waren und die ihre
Lebenswelt und gewisse Handlungsstrategien wesentlich mit beeinflussten.
Wie ich in Punkt 2.2.2.5 bereits angedeutet habe, hat sich ein Großteil der Kinder
und Jugendlichen, zu denen ich in Beziehung stand, für ein Leben auf der Straße
entschieden, um innerfamiliären Gewaltstrukturen zu entfliehen. Das bedeutet, ihr
Lossagen von ihren Familien war in den meisten Fällen eine Reaktion auf einen
scheinbar auswegslosen Zustand, in dem sie sich gefangen und ohnmächtig fühlten.
Ihr Weggang von zu Hause bedeutete also für sie zunächst eine Befreiung aus diesen
Strukturen mit der Hoffnung auf einen Gewinn an Freiheit, Autonomie und
Partizipationsmöglichkeiten. Die Realität, mit der die Kinder und Jugendlichen nun
in ihrer neuen Lebenswelt konfrontiert werden, zeigt allerdings deutlich, dass auch
die Straße als Lebensraum nicht frei von Gewaltstrukturen und Machtgefügen ist, in
denen sie sich zunächst einfügen und allein behaupten müssen. Während meiner
Beobachtungen im Lebensalltag auf der Straße habe ich zunehmend festgestellt, dass
besonders die Beziehungen innerhalb des Zusammenschlusses der dort lebenden
Personen durch eine starke Ambivalenz gekennzeichnet war. So herrschte einerseits
ein sehr starker Zusammenhalt und eine große Solidarität zwischen den Kindern und
Jugendlichen, andererseits kam es aber während meines Aufenthaltes auf der Straße
96
auch relativ häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe14.
Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass gewaltsame Konflikte zwischen
einzelnen Gruppenmitgliedern in keinem Fall eine grundsätzliche Umdefinierung der
Beziehung zueinander nach sich zogen, sondern viel mehr als „normale“
Alltagserscheinung im Straßenleben gewertet wurde.
In diesem Zusammenhang spielte meines Erachtens auch der Drogenkonsum der
Kinder und Jugendlichen eine zentrale Rolle, der an sich wiederum ein wesentliches
Problem darstellte. So gehörte, wie auch gewalttätige Auseinandersetzungen, der
regelmäßige Konsum von Alkohol, Kleber, Medikamenten und unterschiedlichen
pflanzlichen Substanzen zum „normalen“ Alltag der auf der Straße lebenden
Personen. Über die gesundheitlichen Schäden hinaus, die insbesondere der
regelmäßige Gebrauch von Kleber hervorrief15, war besonders unter der Einwirkung
von Alkohol und chemischen Substanzen ein sehr hohes Aggressionspotential zu
erkennen. Bei mir wurde der Eindruck erweckt, dass der Drogenmissbrauch eine
Fluchtfunktion darstellte, die den Kindern und Jugendlichen einen Umgang mit ihren
Problemen ermöglichte, weil dadurch sowohl unverarbeitete traumatische Erlebnisse
als auch die Perspektivlosigkeit in ihrer aktuellen Situation so vorübergehend
verdrängt werden konnten. Ebenfalls wurde nach eigenen Schilderungen der Kinder
besonders unter dem Einfluss von Kleber bei ihnen ein Gefühl der Geborgenheit,
Sicherheit und Stärke hervorgerufen.
Meines Erachtens ist sowohl der Drogenmissbrauch der Kinder und Jugendlichen, als
auch das Konfliktverhalten innerhalb der Gruppe vor dem Hintergrund ihrer
biographischen Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation als eine Strategie des
Umgangs mit dem Fehlen an zuverlässigen Bindungspersonen und mit vielfältigen
Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit zu verstehen.
Insofern stellt der Substanzenmissbrauch für sie zunächst einmal ein gewisses Maß
an Sicherheit her, indem durch die Konsumierung eine verlässliche Reaktion
hervorgerufen wird. Gewissermaßen gibt er dem Kind eine Möglichkeit der
Einflussnahme auf seinen Körper, seine Emotionen und sein Erleben bzw. seine
Bewältigung des Alltags.
14 Auf diesen Aspekt wird in der Beschreibung der Struktur und Funktionen des sozialen Netzwerkes näher eingegangen. 15 Eine hohe Anzahl der Kinder, die regelmäßig Kleber konsumierten, litt sowohl unter starken Konzentrationsschwierigkeiten, häufigen Kopfschmerzen und Erkrankungen der Lungen und Atemwege.
97
Über die oben genannten Schwierigkeiten hinaus haben sich für mich insbesondere
zwei weitere zentrale Problematiken herauskristallisiert, die das Leben der Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen auf der Straße wesentlich beeinflussen bzw.
mitbestimmen und die ich in diesem Kontext als Dimensionen von Armut
bezeichnen möchte – das Leben in der Illegalität durch fehlenden Nachweis der
Identität und die Stigmatisierung und Marginalisierung durch die Gesellschaft. Bei
meiner Darstellung ist es an dieser Stelle schwierig, diese zwei Aspekte scharf
voneinander abzugrenzen, da sie in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen
und sich teilweise wechselseitig bedingen. Allerdings scheint es mir hier sinnvoll,
eine grobe Unterteilung vorzunehmen, um eine bessere Übersicht verschaffen zu
können und die sich aus diesen Dimensionen ergebenden Konsequenzen gezielter
herausstellen zu können.
Leben in der Illegalität
Wie ich eingangs bereits angedeutet habe, stellt die „Identitätslosigkeit“ ein
wesentliches Problem der auf der Straße lebenden Personen dar. „Identitätslosigkeit“
bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen
aufgrund fehlender Dokumente zum Nachweis ihrer Identität nirgendwo registriert
sind. In vielen Fällen befinden sich ihre Geburtsurkunden in ihren Herkunftsfamilien
oder sie existieren überhaupt nicht mehr. Diese „Identitätslosigkeit“ ist, wie ich im
Folgenden erläutern werde, mit weitreichenden Folgen verbunden.
Da laut der indonesischen Gesetzgebung ab dem siebzehnten Lebensjahr die
Ausweispflicht (im Indonesischen: wajib KTP) in Kraft tritt16, bewegen sich somit
all diejenigen Personen, die dieses Alter überschritten haben und ohne registrierte
Identität leben, in der Illegalität – offiziell existieren sie nicht.
Um eine kartu tanda penduduk (kurz: KTP), das heißt, einen Ausweis beantragen zu
können, wäre abgesehen von einem hohen finanziellen Aufwand aber zunächst der
Nachweis einer Identität in Form einer akta kelahiran (im Deutschen:
Geburtsurkunde) oder einer kartu keluarga (im Deutschen: Familienkarte) zwingend
notwendig17. Da den Kindern und Jugendlichen diese Dokumente in den meisten
16 vgl. „Peraturan Daerah Kota Yogyakarta Nomor 2, Tahun 2001, tentang Penyelenggaraan Pendaftaran Penduduk dan Catatan Sipil“ , S. 13 (im Deutschen: „Verordnung der Stadt Yogyakarta Nummer 2, 2002, Über die Durchführung der Einwohneranmeldung und zivile Notizen“). Hier heißt es in § 20, Absatz 1: „Jeder Einwohner, der das Alter von 17 Jahren erreicht hat oder verheiratet ist oder jemals verheiratet war, ist verpflichtet, eine KTP zu besitzen.“ (v.V..) 17 vgl. ebd., S. 19
98
Fällen nicht zugänglich sind, besteht für sie bislang keine legale Möglichkeit, sich
eine juristisch anerkannte Identität zu verschaffen18. Die Konsequenzen, die aus
dieser „Identitätslosigkeit“ heraus erwachsen, beeinträchtigen das Leben der
betroffenen Personen in vielerlei Hinsicht:
Zunächst haben sie aufgrund dessen keinerlei Zugang zu gesellschaftlichen
Institutionen. Das heißt, es ist ihnen weder gestattet, Bildungsangebote in Anspruch
zu nehmen, noch steht ihnen offiziell das Recht auf eine ärztliche Versorgung im
Krankheitsfall zu. Auch ist im Todesfall eines Kindes oder Jugendlichen ohne den
Nachweis seiner Identität das Recht auf eine Beerdigung nicht gewährleistet. Des
weiteren ist es ihnen nicht möglich, ein vertraglich abgesichertes Arbeitsverhältnis
einzugehen oder Mietverträge abzuschließen, da auch hierfür ein Identitätsnachweis
verlangt wird. Auch eine Wahlberechtigung steht den betroffenen Personen aus
demselben Grund nicht zu. Somit bleibt ihnen in jeglicher Hinsicht die Chance auf
eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an gesellschaftspolitischen
Entscheidungen verwehrt.
Ebenso schwerwiegend ist darüber hinaus, dass die betroffenen Kinder, Jugendlichen
und Erwachsenen durch den fehlenden Identitätsnachweis laut indonesischer
Gesetzgebung gegen die bestehende Pflicht, sich im Falle einer polizeilichen
Kontrolle ausweisen zu können, verstoßen, wodurch mitunter gewaltsame Übergriffe
von Seiten der Regierung bzw. der Polizei auf ebendiese Personen legitimiert
werden. So kam es an den von mir in Punkt 2.2.1.5 beschriebenen Aufenthaltsorten
der GirLi- Mitglieder auch während meine Anwesenheit vermehrt zu
Auseinandersetzungen zwischen den dort lebenden Personen und der städtischen
Polizei, bei denen willkürliche Inhaftierungen vorgenommen wurden, die oftmals mit
Folterungen vor Ort, auf der Polizeidienststelle oder in Gefängnissen einhergingen19.
Diesen Übergriffen sind die Betroffenen wiederum schutzlos ausgeliefert, da ohne
die notwendigen finanziellen Mittel und ohne einen Identitätsnachweis kein
juristischer Schutz gewährleistet ist. Das heißt, dass es in keinem Fall von
struktureller Gewalt gegen diese Personen in Form von Folter und Inhaftierung zu 18 Im Jahre 2002 hat es Bestrebungen von Seiten der auf der Straße lebenden Personen in Yogyakarta gegeben, ihr Recht auf eine Identität vor der Provinzregierung geltend zu machen. Ebenfalls gründete sich während meines Aufenthaltes in Yogyakarta ein Komitee aus Mitarbeiter/Innen verschiedener Nichtregierungsorganisationen, die einen Gesetzesentwurf bezüglich der „Identitäten –Regelung“ erarbeiteten und der Provinzregierung in einer Anhörung vorstellten. Bislang ist aber noch keine Reaktion seitens der Regierung erfolgt (ausführlicher in Punkt 2.2.1.8). 19 Ich stütze mich auch hierbei auf meine eigenen Beobachtungen, auf Schilderungen der Kinder und Jugendlichen als auch auf Informationen von Mitarbeiter/innen der dort tätigen Nichtregierungsorganisationen.
99
einer Strafverfolgung kommt. Hinzu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen
aufgrund der traumatischen Erfahrungen mit der Regierung bzw. der Polizei diese
eher als Gefahrenquelle erleben, als dass sie eine Schutzfunktion für sie darstellen
würde20.
Zwar besitzt laut indonesischer Gesetzgebung jede Person mit indonesischer
Staatsbürgerschaft, einschließlich Kinder, das Recht auf einen Nachweis über seine
Identität21. Allerdings befinden sich die auf der Straße lebenden Kinder und
Jugendlichen hier in einer scheinbar zunächst unauflösbaren Situation der
Perspektivlosigkeit, da dieses Recht untrennbar mit dem Besitz einer Geburtsurkunde
verbunden ist. Durch das Fehlen dieses Dokumentes und der Unmöglichkeit, in
seinen Besitz zu gelangen, entfallen für sie gleichzeitig sämtliche bürgerlichen
Grundrechte. Darüber hinaus machen sie sich nach indonesischem Recht bereits
durch die Tatsache, dass sie bei Polizeikontrollen weder eine Geburtsakte noch
einen Ausweis vorweisen können, strafbar und sind in diesem Fall einer
dementsprechenden Behandlung ausgesetzt.
Das Leben ohne eine offiziell anerkannte Identität bringt zudem über die oben
geschilderten Konsequenzen hinaus für die Kinder und Jugendlichen eine ungemeine
Schwierigkeit mit sich, ein positives Selbstkonzept entwickeln und sich als
Individuum in einer Gesellschaft verorten zu können, in der sie offiziell nicht
existieren. Erschwert wird dies zusätzlich durch das ihnen anlastende Stigma, mit
dem sie behaftet sind, und mit dem sie tagtäglich konfrontiert werden. Die Ausmaße
dieses Stigmas und der damit einhergehenden Marginalisierung werde ich im
folgenden Punkt versuchen, herauszuarbeiten.
Stigmatisierung und Marginalisierung
Bevor ich in Folgenden die Stigmatisierung und Marginalisierung als zentrales
Problem im lebensweltlichen Kontext der auf der Straße lebenden Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen beleuchte, möchte ich zunächst näher auf die
Beschaffenheit und Wirkungsweisen von Stigmatisierung im Allgemeinen eingehen. 20 Bei einem „child-participation“-Workshop, der im Januar 2004 von der Nichtregierungsorganisation HUMANA für die auf der Straße lebenden Kinder veranstaltet wurde, sollten die teilnehmenden Kinder eigenständig herausarbeiten, welche Personengruppen und Orte sie mit „Sicherheit“, und welche sie mit „Gefahr“ verbinden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Polizei aus der Sichtweise der teilnehmenden Kinder die potenziell größte Gefahr für sie darstellte, während Müllsammler, andere auf der Straße lebende Personen und Becak - Fahrer ihnen eher Schutz in Gefahrensituationen boten. 21 vgl. SEACA 2003, S. 3: “Jedes Kind hat das Recht auf einen Namen in Form von einer anerkannten Identität und auf den Status einer Staatsangehörigkeit.“ (v.V.)
100
So beschreibt Gerhard Falk die Stigmatisierung folgendermaßen:
„Unity is provided to any collectivity by uniting against those who are seen as a
common threat to the social order and morality of a group. Consequently, the stigma
and the stigmatisation of some persons demarcates a boundary reinforces the conduct
of conformists. Therefore, a collective sense of morality is achieved by the creation of
stigma and stigmatisation and deviance” (Falk 2001, S. 18).
Das heißt, ein Stigma erhält seine Funktion erst durch eine Definition von dem, was
in einer Gesellschaft als “normal” gilt und in Abgrenzung dazu einem Gegenpol, der
Bestimmung dessen, was als „abweichend“ definiert wird. Die Definition dessen,
was eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm darstellt, ist also gleichzeitig
immer auch in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingebunden, durch
den sie eine Legimitation erhält. Somit richtet sich die Stigmatisierung gegen
Personen oder Personengruppen, welche die gesellschaftliche Ordnung durch ihr
abweichendes Verhalten, bzw. ihr „Anderssein“ zu gefährden scheinen. Durch die
Stigmatisierung einzelner Personengruppen kommen innerhalb einer Gesellschaft
bestehende Machtstrukturen zum Vorschein, da es nicht jeder Gruppe gleichermaßen
möglich ist, an den Entscheidungen darüber, nach welchen Kriterien „normales“ und
abweichendes Verhalten definiert wird, zu partizipieren. Vielmehr sind es je nach
Gesellschaftssystem meist diejenigen, die in irgendeiner Weise eine mächtigere
Position innehaben, denen die Definierung und Durchsetzung gesellschaftlicher
Normen vergönnt ist (vgl. Giddens 1999, S. 195).
Im lebensweltlichen Kontext der obdachlosen Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen in Yogyakarta geht deren Stigmatisierung in erster Linie von Seiten der
Regierung aus, da sie bereits aufgrund ihrer „Identitätslosigkeit“ kriminalisiert
werden. So erhält das auf ihnen lastende Etikett des „Abweichlers“ gar eine
gesetzlich geregelte Legimitation. Bereits durch den fehlenden Nachweis über ihre
Existenz werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt, indem ihnen sämtliche
Chancen der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verwehrt bleiben.
Von der Gesellschaft werden sie in vielerlei Hinsicht als „abweichend“ und
„unruhestiftend“ wahrgenommen und stigmatisiert:
Schon die Tatsache, dass sie allein und ohne Familieneinbindung leben, macht sie in
der indonesischen Gesellschaft, in der das Familiensystem einen hohen Stellenwert
genießt und der traditionellen Einstellung, nach der das Kind seine Eltern
bedingungslos zu achten hat (patuh kepada orang tua, vgl. Indonesien Information
Nr.1, 2002), wie ich bereits in Punkt 2.2.1.3 versucht habe darzustellen, zu
101
„Abweichlern“ von der gesellschaftlichen Norm. Aufgrund ihrer äußeren
Erscheinung, durch die sie ebenfalls aus dem gesellschaftlichen Bild hervortreten,
ihres häufigen Alkohol- und Drogenkonsums auf der Straße und Vorkommnisse
gewalttätiger Auseinandersetzungen sind sie kollektiv mit dem gesellschaftlichen
Stigma des „Unruhestifters“ oder gar des „Kriminellen“ behaftet. Dieses Stigma wird
in diesem Kontext aufrecht erhalten durch eine Vorverurteilung zum Einen und einer
Übertragung dieser Vorurteile auf die gesamte Personengruppe zum Anderen. Dass
es unter den auf der Straße lebenden Personen, wie auch in anderen
gesellschaftlichen Bereichen, durchaus solche gibt, die ihren Lebensunterhalt
überwiegend durch Einbrüche, Raubüberfälle oder sonstige kriminelle Aktivitäten
bestreiten, ist in gewisser Weise durchaus nicht verwunderlich, zumal wir es hier mit
einer sehr heterogenen Zusammensetzung der Personengruppe zu tun haben. Darüber
hinaus spielen in diesem Kontext sicherlich auch langfristige Auswirkungen der
gesellschaftlichen Etikettierung auf das individuelle Selbstkonzept der
stigmatisierten Personen eine nicht unbedeutende Rolle, denn das ihnen anhaftende
Etikett wurde in einigen Fällen zu einem Bestandteil ihrer Selbstwahrnehmung.
Die von der Gesellschaft ausgehende und durch die Regierung legitimierte
Stigmatisierung, Diskriminierung und Marginalisierung der obdachlosen Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen ich während meiner Beobachtungen in
Beziehung stand, äußerste sich auf vielfältige Art und Weise. Das meinen
Beobachtungen nach wesentlichste Merkmal war jedoch zunächst, dass von einem
Großteil der Bevölkerung22 (bezogen auf die Orte, an denen meine Beobachtungen
stattfanden) die auf der Straße lebenden Personen selbst als das eigentliche Problem
identifiziert wurden, nicht aber das politische System, die Gesellschaft und die darin
verankerten Normen und Werte. Somit stellten die auf der Straße lebenden Personen
als Rebellen, die sich gegen das System und bestehende Missstände auflehnten,
besonders für einen großen Teil der Mittel- und Oberschicht, eine akute Gefahr für
die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung dar23. Dies äußerste sich dann
verstärkt, wenn eines der Kinder eine Beziehung bzw. Freundschaft zu einem Kind
22 Meine Absicht ist es an dieser Stelle keinesfalls, die indonesische Gesellschaft zu homogenisieren oder Schuldzuweisungen zu tätigen. Allerdings komme ich bei einer schlüssigen Darstellung der gesellschaftlichen Reaktionen auf die GirLi - Mitglieder schlecht ohne diese Vereinfachung und Verallgemeinerung aus, die ich durch Formulierungen wie „die Gesellschaft“ oder „die Bevölkerung“ bereits vornehme. 23 Zwischen den auf der Straße lebenden Personen und anderen Personen der indonesischen Unterschicht war hingegen eine relativ große Solidarität festzustellen, worauf ich im folgenden Punkt näher eingehen werde.
102
aus einem der Stadtviertel (im Indonesischen: kampung) aufzubauen versuchte. In
den meisten Fällen wurde diese Beziehung von Eltern und Angehörigen des
kampung – Kindes unterbunden. Grund dafür war hingegen in den seltensten der von
mir beobachteten Fälle ein akuter Verstoß des „Straßenkindes“ gegen die
bestehenden Regeln oder Normen. Vielmehr waren es oft das Vorverständnis und die
Vorurteile, die einige Bewohner der Stadtviertel über „die Straßenkinder im
Allgemeinen“ hatten und die damit verbundene Angst, der Kontakt könne eine
Gefährdung ihres eigenen Kindes bedeuten.
Da in der indonesischen Gesellschaft, die im Vergleich zu der deutschen eher
kollektivistische Strukturen aufweist (vgl. 1.3.1), offensives Konfliktverhalten in der
Öffentlichkeit eher unüblich ist, äußerte sich die Stigmatisierung und
Diskriminierung durch die Bevölkerung dementsprechend auf eher passive Art und
Weise, die anfangs von mir auf Anhieb aufgrund meines anderen kulturellen
Hintergrundes schwer zu erkennen war. So empfanden die auf der Straße lebenden
Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen insbesondere ihnen entgegengebrachte
Verhaltensweisen wie das Ignorieren ihres Daseins, geringschätzige Blicke, aber
auch übermäßiges Mitleid als eine Diskriminierung. Anhand eines Auszuges aus
meinem Forschungstagebuch möchte ich dies bezogen auf den Aspekt des
übermäßigen Mitleids an einer konkreten Begebenheit versuchen zu verdeutlichen:
14. November 2003
„ Heute Nachmittag wurden die Kinder und Jugendlichen zum berbuka bersama, dem
gemeinsamen Fastenbrechen zu Sonnenuntergang von einer bekannten indonesischen
Musikgruppe eingeladen. Sie luden mich ein, mit ihnen zu kommen. Also tat ich das.
Mit einem Bus wurden wir von der Kreuzung abgeholt und zur Geschäftsstelle der
Band gebracht. Die Kinder setzten sich unaufgefordert draußen auf den Boden vor den
Eingang und ich mit ihnen. Drinnen saßen die Bandmitglieder und deren Freunde.
Nachdem drinnen das Abendgebet stattgefunden hatte, an dem keines der Kinder
teilnahm, wurde Essen, Trinken und Zigaretten verteilt, die die Kinder dankbar
annahmen. Während wir alle aßen und tranken, wurden von Fotografen Fotos der
essenden und trinkenden Kinder und Jugendlichen gemacht. Als das Essen beendet
war, wurden wir mit dem Bus zur Kreuzung zurückgebracht. Dort angekommen
erzählten mir einige der Kinder und Jugendlichen, wie schrecklich und entwürdigend
sie diese Veranstaltungen fanden, da sie sich vorkamen wie hilfsbedürftige Objekte,
die zu Werbezwecken missbraucht würden. Ich fragte sie, warum sie solche
Einladungen dann nicht ablehnten, sondern sie dankbar annehmen würden. Daraufhin
103
antworteten sie mir, dass sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Status nicht das Recht
hätten, sich gegen solche Angebote zu wehren und Hilfe von sogenannten höher
gestellten Personen abzulehnen, da sie sonst als undankbar bezeichnet würden.“
Ein weiteres Merkmal dieses Stigmas ist, dass es von fast statischer Beschaffenheit
ist. Das heißt, der Gruppe der auf der Straße lebenden Personen wird wenig
Veränderungspotential zugestanden. So werden durch Regierung und Gesellschaft
dieser Personengruppe zum Einen hauptsächlich negative Merkmale zugeschrieben,
während zum Anderen ihre Potentiale, die sie zu „Abweichlern“ im positiven Sinne
machen, kaum wahrgenommen werden. Des weiteren werden diese vermeintlichen
Eigenschaften generalisiert, da sie der gesamten Gruppe zugeschrieben werden.
Darüber hinaus scheint dieses Stigma durch seine fortwährende gesellschaftliche und
politische Reproduktion wie „eingefroren“ zu sein.
Aus den Erkenntnissen meiner Beobachtungen entnehme ich diesen
gesellschaftlichen Reaktionen auf die GirLi – Mitglieder eine gewisse Unsicherheit
und Angst der Bevölkerung, die meines Erachtens zum Einen durch Darstellungen
und Verfahren der Regierung produziert wird. Zum Anderen könnte sie aus der
mangelnden produktiven Auseinandersetzung bzw. den fehlenden
Berührungspunkten mit eben dieser ihnen in vieler Hinsicht fremden Personengruppe
resultieren.
Die Handlungsstrategien, die die auf der Straße lebenden Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen im Umgang mit ihrer Stigmatisierung, Diskriminierung und
Marginalisierung entwickelt haben, variieren individuell sehr stark sind und waren
teilweise ambivalent zueinander, da bei vielen Personen sowohl Resignation und
Fluchtversuche aus der eigenen Situation als auch aktive Versuche, die Legimitation
dieses Stigmas zu revidieren und sich daraus zu befreien, koexistieren. Ebenso
wurden für mich sehr viele Tendenzen innerhalb des sozialen Netzwerkes auf der
Straße erkennbar, die eine Sensibilisierung der Gesellschaft für ihre Situation
anstrebten und entschlossen für ihre eigenen Rechte und deren Durchsetzung
eintraten. Wie ich im Folgenden genauer schildern werde, spielt in diesem
Zusammenhang das soziale Netzwerk eine wesentliche Rolle. Hierbei möchte ich
besonders die Potentiale, die für mich in diesem Zusammenschluss erkennbar
wurden, herausarbeiten, weil sie im späteren Verlauf der Arbeit im Hinblick auf
mögliche Kriterien für Handlungskonzepte einen wesentlichen Ausgangspunkt
darstellen werden.
104
2.2.1.7 Beziehungswirklichkeiten in einer Subkultur – Struktur und Funktionen
des sozialen Netzwerkes auf der Straße
Bevor ich im Folgenden die Struktur und Funktionen des sozialen Netzwerkes
darstellen werde, wobei ich mich in erster Linie auf meine teilnehmende
Beobachtung des Zusammenschlusses GirLi beschränke, soll hier zunächst näher
erläutert werden, in welchen größeren Kontexten dieser Zusammenschluss steht. So
ist die Gruppe GirLi Teil eines komplexeren Netzwerkes der Straße, das zusammen
mit weiteren Zusammenschlüssen bzw. Gruppen koexistiert, interagiert und
kooperiert. Darüber hinaus existieren sowohl weitere Zusammenschlüsse von auf der
Straße lebenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch Netzwerke, die
sich aus Zusammenschlüssen von Straßenhändlern, Becak-Fahrern oder
Müllsammlern gebildet haben.
Im Folgenden wird sich der Begriff des sozialen Netzwerkes aber im Wesentlichen
auf den Zusammenschluss GirLi beziehen, deren Strukturen und Bedeutung im
Lebensalltag auf der Straße ich näher beschreiben möchte.
Durch den Beginn eines Lebens auf der Straße beginnt für die Kinder, wie Lamnek
es auch im Kontext der teilnehmenden Beobachtung meiner Meinung nach treffend
formuliert, eine „zweite Sozialisation“ (vgl. Lamnek 1995, S.314). Das heißt, sie
werden gezwungen, ihr Leben im Alleingang zu bewältigen, die Straße als neuen
Lebensraum zu akzeptieren und die alleinige Verantwortung für ihren Körper, ihre
Gesundheit, ihre Sicherheit und ihr Überleben selbst in die Hand zu nehmen. Die
ihnen im Verbund ihrer Herkunftsfamilien vertraute Ordnung in Form von Normen,
Werten und Traditionen verliert mit dem Eintritt in ein Leben auf der Straße an
Gültigkeit bzw. Relevanz, und an ihre Stelle tritt ein den Kindern zunächst völlig
fremdes Ordnungssystem, mit dem sie konfrontiert werden und in das sie sich zuerst
einmal integrieren müssen, um auf der Straße überhaupt überleben zu können. Das
soziale Netzwerk, wie ich hier den Zusammenschluss der Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen bezeichne, die gemeinsam auf der Straße leben, ist bereits in diesem
anfänglichen Prozess der „Straßensozialisation“ und Integration von wesentlicher,
(teils ambivalenter) Bedeutung. Doch auch über den ersten Zugang zum
„Straßenleben“ hinaus erfüllt es vielfältige, mitunter überlebenswichtige
Funktionen. Um diese deutlich zu machen, möchte ich bei den charakteristischen
105
Strukturmerkmalen und Interaktionsmustern dieses Netzwerkes ansetzen, durch die
es sich im Wesentlichen auszeichnet.
Strukturmerkmale des sozialen Netzwerkes
Das Leben der Kinder und Jugendlichen auf der Straße ist aufgrund deren relativ
geringen Ortsgebundenheit durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet, was mit einer
relativ großen Fluktuation in der Zusammensetzung der Gruppe einhergeht. So
kommt es durchaus vor, dass ein oder mehrere Kinder sich dazu entscheiden, auf
unbestimmte Zeit an den ca. 30 Kilometer entfernten Strand, nach Jakarta oder in
eine andere Stadt umzuziehen. Ebenso häufig kommen wiederum „neue“ Kinder
oder Jugendliche aus anderen Städten für eine gewisse Zeit nach Yogyakarta, um
dort vorübergehend zu leben. Aus dieser Mobilität und Fluktuation heraus erwächst
wiederum die Entstehung städteübergreifender Beziehungen und Netzwerke der
Kinder untereinander. Hauptsächlich nutzen die Kinder die Bahn als interstädtisches
Transportmittel.
Des weiteren ist das soziale „Straßennetzwerk“ durch eine geringe Offenheit zu
institutionellen Netzwerken gekennzeichnet, was im Wesentlichen bedingt ist durch
mangelnde Zugangschancen zu gesellschaftlichen Institutionen und weitere
desintegrierende gesellschaftliche Faktoren, auf die ich in Punkt 2.2.1.6 bereits
eingegangen bin. Der Zusammenhalt des Netzwerkes ist somit stark mitbestimmt
durch von außen gesetzte Rahmenbedingungen.
Aus ihrer Lebenssituation im Allgemeinen (vgl. 2.2.1.5), aber insbesondere auch aus
der Marginalisierung und Stigmatisierung der auf der Straße lebenden Personen und
den damit einhergehenden Konsequenzen für ihre Lebenswelt (vgl. 2.2.1.6) heraus
haben sich innerhalb ihres Zusammenschlusses starke subkulturelle Strukturen
entwickelt und stabilisiert, das heißt, sie entwickeln ihre eigenen Kulturmerkmale,
die sich sowohl über das äußere Erscheinungsbild der zu dieser Gemeinschaft
gehörenden Personen als auch über bestimmte Kommunikationsformen, eigene
Normen- und Wertesysteme und spezifische Beziehungsstrukturen darstellen. Wie
wir im ersten Teil der Arbeit als zentrales Merkmal von Kulturen im Allgemeinen
herausgestellt haben, sind auch diese subkulturellen Merkmale der Kinder und
Jugendlichen in einem stetigen Wandel begriffen. Diese Prozesshaftigkeit nahm ich
während meines Aufenthaltes in ihrer Lebenswelt insofern besonders stark
hinsichtlich der sprachlichen Interaktion der Kinder untereinander und mit mir wahr,
106
dass der Gebrauch bestimmter Ausdrücke, die eigenen Sprachschöpfungen der
Mitglieder von GirLi entsprangen, häufig veränderte. Gleichzeitig beinhalteten diese
subkulturellen Tendenzen aber auch Elemente, die tief in dem traditionellen
indonesischen Normen- und Wertesystem verwurzelt waren. Dies machte sich zum
Einen durch eine große Akzeptanz und einen Respekt von Hierarchien sowohl
innerhalb als auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft bemerkbar, wobei
hierarchische Verteilungen innerhalb der Gemeinschaft weniger altersabhängig
waren. So hing die Position, die ein Mitglied als Teil des Zusammenschlusses inne
hatte, stark von seiner individuellen Persönlichkeit und seinem Erfahrungswert ab.
Innerhalb der Gruppe habe ich starke individuelle Unterschiede im Umgang mit der
eigenen Machtposition beobachten können. So nahm ich von einigen Personen, die in
der Gemeinschaft eine Schlüsselposition innehatten, Bestrebungen wahr,
gruppeninterne Machtgefälle und Hierarchien abzubauen, indem von ihnen
beispielsweise dazu aufgefordert wurde, auf stellungsangemessene Anredeformen
(vgl. 2.2.1.3) zu verzichten, und indem Kritik auch von sich in dieser Hierarchie
weiter unten befindenden Mitgliedern angenommen wurde. In vielen Situationen
wiederum war für mich jedoch auch der Versuch zu erkennen, bestehende
Hierarchien aufrecht zu erhalten oder zu verstärken, was sich oftmals durch
Sanktionen gegenüber Personen in weniger starken Positionen äußerte. Auch bei den
Personen, die sich innerhalb der Gruppe eher in einer weniger mächtigen Position
befanden, waren für mich individuell unterschiedliche Umgangsweisen mit
ebendiesen Machtgefügen zu erkennen. Bei einem Großteil der Kinder lösten
insbesondere Restriktionen und Sanktionen von Seiten „einflussreicherer“ Mitglieder
oftmals einen vorübergehenden Rückzug von den Aufenthaltsorten aus, wodurch sie
sich den Machtstrukturen und den für sie daraus resultierenden Konsequenzen
versuchten zu entziehen.
Der Einfluss traditioneller gesellschaftlicher Werte äußerte sich über die Akzeptanz
und den Respekt gegenüber bestehender Hierarchien hinaus aber auch durch den
hohen Stellenwert der Gemeinschaft, deren Interessen und Belange grundsätzlich im
Vordergrund standen. Werte wie Höflichkeit, Konfliktvermeidung und
Harmoniestreben waren in der Begegnung mit anderen Personengruppen von großer
Bedeutung, während sie hingegen innerhalb der eigenen Gemeinschaft eine eher
untergeordnete Rolle spielten.
107
Ein wesentlicher Bestandteil, der die tägliche Interaktion des sozialen Netzwerkes
auszeichnete, war die immaterielle und materielle Hilfe sowie der Austausch von
Informationen über aktuelle Vorkommnisse oder drohender Gefahren in ihrem
Lebensraum. Dieser Austausch war in jeder alltäglichen Situation, sowohl während
der Arbeit, bei zufälligen Zusammentreffen zweier oder mehrerer Mitglieder als auch
bei anderen Zusammenkünften expliziter oder impliziter Bestandteil der
Interaktionen.
Die Beziehungswirklichkeiten innerhalb des Zusammenschlusses der auf der Straße
lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen waren meines Erachtens wesentlich
durch eine starke Ambivalenz geprägt. So herrschte einerseits, besonders in
Gefahrensituationen durch Bedrohungen von außen, eine fast uneingeschränkte
Solidarität und ein starker Zusammenhalt innerhalb der Gruppe. Andererseits gab es
auch immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen unter den einzelnen
Gruppenmitgliedern24. Trotz dieser Ambivalenz, welche die
Beziehungswirklichkeiten im sozialen „Straßennetzwerk“ kennzeichnet, war für
mich eine völlige Identifikation der in diesem Zusammenschluss lebenden
Individuen mit der Gruppe zu erkennen, wobei es an dieser Stelle unerlässlich ist,
dies auf dem Kontext der indonesischen Gesellschaft zu betrachten, in der die
Gemeinschaft einen wesentlich höheren Stellenwert einnimmt als in eher
individualistisch strukturierten Gesellschaftssystemen (vgl. 1.3.1). Das heißt, die
Mitglieder des sozialen Netzwerkes definierten in individuell mehr oder weniger
starker Ausprägung ihre eigene Person als Teil der Gemeinschaft. Dies machte sich
im alltäglichen Umgang miteinander bemerkbar. So wurde jeder materielle Besitz,
wie zum Beispiel Kleidungsstücke, Schmuck oder Instrumente, als Eigentum der
Gemeinschaft angesehen und innerhalb der Gruppe geteilt, verschenkt oder gegen
andere materielle Gegenstände getauscht25. Auch das gemeinsam erwirtschaftete
Geld galt als Eigentum der Gemeinschaft, wobei diesem im Wesentlichen eine rein
lebenserhaltene Funktion zugeschrieben wurde, indem es meist unmittelbar in
Lebensmittel investiert wurde. So war ebenfalls das gemeinsame Essen und Trinken 24 Diese von mir beschriebene Ambivalenz nahm ich während meines zweiwöchigen Aufenthaltes in Jakarta im Dezember 2003 innerhalb eines anderen Zusammenschlusses an einem Busterminal lebender Kinder und Jugendlicher in wesentlich ausgeprägterer Form wahr. 25 Die Bereitschaft zum Tausch eines materiellen Besitzes gegen einen anderen spielte besonders für die Integration und Akzeptanz eines „Neuankömmlings“ in der Gruppe eine zentrale Rolle und war von ritueller Bedeutung. Das heißt, seine Rolle innerhalb des sozialen Netzwerkes hing entscheidend von seiner anfänglichen Bereitschaft ab, sich den bestehenden Umgangsformen und Regeln anzupassen bzw. diese zu akzeptieren, was auch auf mich, die zunächst als „Fremde“ in ihren Lebensraum eindrang, zutraf (ausführlicher in 2.2.2.1).
108
meines Erachtens ein zentraler Bestandteil, der den Zusammenhalt des Netzwerkes
deutlich werden ließ. Gleichzeitig war aber die Teilnahme als „Fremde/r“ an ihrem
Essen und Trinken auch entscheidendes Kriterium für die Akzeptanz und Achtung
innerhalb der Gruppe.
Aus diesem kollektivistischen und solidarischen Verständnis des Gruppenmitglieder
als Teil der Gemeinschaft hinaus erwuchsen, abgesehen von alltäglich zu
beobachtenden Strukturmerkmalen, auch gemeinsame kreative Aktivitäten, die
gemeinsam organisiert und durchgeführt wurden. So organisierten die auf der Straße
lebenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mehrmals im Jahr auf der Straße
stattfindende Festivals, an denen sie ihre selbst komponierte Musik, eigenständig
inszenierte Theaterstücke und Kunst präsentierten26. Bei der Organisation und
Durchführung eines solchen Projektes brachte sich jedes Gruppenmitglied je nach
Lage seiner individuellen Kompetenzen und Interessen mit ein.
Im Folgenden möchte ich die wesentlichen Bedeutungen und Funktionen, die dieses
soziale Netzwerk im Leben auf der Straße erfüllt, herausarbeiten. Hierbei werde ich
mich an den aus der Analyse meiner Beobachtungen hervorgehenden und von mir
dargestellten Strukturmerkmalen, dem lebensweltlichen Kontext und den darin
existierenden zentralen Problemen orientieren.
Bedeutungen und Funktionen des sozialen Netzwerkes
Die meines Erachtens wesentlichste und grundliegendste Funktion des sozialen
Netzwerkes GirLi, aber auch anderer Netzwerke auf der Straße, war, insbesondere
vor dem Hintergrund des eingangs von mir beschriebenen Problems der sogenannten
Identitätslosigkeit der Netzwerkmitglieder (vgl. 2.2.1.6), der Wiedergewinn einer
Identität. So bedeutete die Einbindung der einzelnen Personen in dieses Netzwerk
gleichzeitig, als Individuum wahrgenommen zu werden, sich als Teil der
Gemeinschaft verorten zu können, bestimmte Rollen und Funktionen übernehmen zu
können und einen Namen zu besitzen. Innerhalb des Zusammenschlusses erfuhren
die Kinder und Jugendlichen gegenseitiges Verständnis bezüglich ihres
biographischen Hintergrundes und ihrer aktuellen Lebenssituation, durch die sie sich
in einem wesentlichen Punkt von in Familien aufwachsenden Kindern und
Jugendlichen unterschieden. Der gegenseitige kommunikative Austausch bot ihnen
26 Auf die vielfältigen Funktionen und die Bedeutungen dieser gemeinsamen kreativen Aktivitäten werde ich im Folgenden noch ausführlicher eingehen.
109
so die Möglichkeit, sich aktiv mit ihrer Vergangenheit und ihrer Lebenswelt
auseinander zu setzen und neue Sichtweisen und Handlungsstrategien zu entwickeln.
Des weiteren stellte das soziale Netzwerk durch den Austausch von Informationen
und die Definition der eigenen Person über die Gemeinschaft eine lebenserhaltende
Schutzfunktion für die Kinder und Jugendlichen dar. Als Teil der Gemeinschaft
stand nicht nur der Schutz ihres eigenen Lebens im Vordergrund, sondern vielmehr
lag es in ihrem Interesse, sich gegenseitig und damit die Gruppe zu schützen. Denn
nur durch dieses gut funktionierende Informationsnetzwerk war auch der Schutz der
eigenen Person gewährleistet. So sprachen sich sowohl vermehrt auftretende
Polizeirazzien an Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen als auch
Verhaftungen einzelner Mitglieder innerhalb kürzester Zeit und über größere
räumliche Entfernungen herum, so dass sich die Gruppenmitglieder in vielen Fällen
nur durch diesen Informationsfluss rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten oder
weitere Gruppenmitglieder in Notfällen Treffen einberiefen, um mögliche Hilfe zu
organisieren.
Ebenfalls spielte das Netzwerk im Krankheitsfall eines Gruppenmitgliedes eine
entscheidende Rolle. Nur durch den Zusammenhalt der Gruppe und mit finanzieller
Unterstützung der NGOs war in solchen Fällen eine ärztliche Versorgung und Pflege
des Kranken gewährleistet27.
Über die oben genannten Funktionen hinaus ermöglichte das soziale Netzwerk den
Kindern, jugendlichen und erwachsenen Gruppenmitgliedern, in ihrer Lebenswelt
und mit den Mitteln, die ihnen dazu zur Verfügung standen, voneinander zu lernen.
Dies geschah nicht zu festgelegten formellen Treffen sondern war als ein Bestandteil
in ihren Lebensalltag integriert. Einen wesentlichen Faktor bildeten in diesem
Kontext ihre selbstgeschriebene Musik und ihre Gedichte, da sich die Kinder und
Jugendlichen dadurch einerseits eine Ausdrucksmöglichkeit verschaffen, um über ihr
Leben zu berichten und eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Andererseits stellten sie
ein alltägliches Lernmedium dar, indem die Gruppenmitglieder sich während ihrer
Arbeit und bei anderen Zusammenkünften untereinander sowohl das Spielen
27 Während meines Aufenthaltes in Yogyakarta besuchte ich über zwei Wochen hinweg in regelmäßigen Abständen ein GirLi – Mitglied, dass an einer Lungenentzündung erkrankt war, im Krankenhaus. In diesem Zeitraum war ohne Unterbrechung immer mindestens eines der anderen auf der Straße lebenden Kinder bei ihm im Krankenhaus anzutreffen, das ihn mit Lebensmitteln und sauberer Kleidung versorgte, darauf achtete, dass er ausreichende ärztliche Versorgung erhielt und die sich mit ihm über aktuelle Geschehnisse austauschte. Die Kinder lösten sich in regelmäßigen Zeitabständen gegenseitig ab. Während dessen wurde von den restlichen Kindern und Jugendlichen auf der Straße Geld gesammelt und gespart, um die Versorgung des Kranken zu gewährleisten.
110
verschiedener Instrumente als auch das Lesen und Schreiben beibrachten,
gemeinsam neue Lieder komponierten und spielten, Texte dazu schrieben und diese
wiederum an andere Gruppenmitglieder weitergaben. Ebenfalls lernten sie durch den
täglichen kommunikativen Austausch, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und
die für sie geeigneten Umgangsstrategien zu entwickeln.
Gleichzeitig bot die Existenz des sozialen Netzwerkes jedem Einzelnen die
Möglichkeit, an gruppeninternen Entscheidungen und Aktivitäten zu partizipieren
und somit insbesondere ihre Kompetenzen, Interessen und Stärken neu zu entdecken
oder auszubauen. Besonders durch die gemeinschaftlichen kreativen Aktivitäten
konnten sie sich selbst als handlungsfähige, in ihrer Lebenswelt kompetente und
aktiv gestaltende Personen wahrnehmen, die ihrer Lebenssituation nicht hilflos
ausgeliefert waren. Zugleich verliehen die gruppenintern organisierten Aktivitäten
ihrem Leben eine Perspektive, auf die sie, wenn auch nur kurzfristig,
zukunftsorientiert hinarbeiten konnten. Insbesondere konnte ich dies während der
Vorbereitungen für das im Dezember 2003 stattfindende Festival und dessen
Durchführung, bei denen ich die Kinder und Jugendlichen begleitete, feststellen.
Ziel bzw. zugrunde liegende Idee der Kinder und Jugendlichen war es zum einen,
sich dem Rest der Gesellschaft mit den eigenen Potentialen innerhalb des
Netzwerkes zu präsentieren, um so bestehenden Vorurteilen entgegenzuwirken und
die Bevölkerung für die eigene Lebenssituation und innergesellschaftliche
Missstände zu sensibilisieren.
In der Organisationsphase wurden regelmäßig Treffen einberufen, die entweder auf
der Jalan Malioboro oder an der Straßenkreuzung stattfanden. Allein diese
regelmäßigen Versammlungen, an denen meist alle Kinder und Jugendlichen
teilnahmen, erforderten sowohl ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein und
Zuverlässigkeit von jedem einzelnen Mitglied als auch genaue terminliche
Absprachen. In den Sitzungen der GirLi-Mitglieder ging es überwiegend darum,
organisatorische Fragen zu klären, Ideen für die Gestaltung, den Inhalt und das
Motto des Festivals zu entwickeln und über das weitere organisatorische Vorgehen
zu entscheiden. Ebenfalls hatte jeder von ihnen die Möglichkeit, sich in der Gruppe
über seine bisherigen Schwierigkeiten in der Vorbereitung mit den anderen
auszutauschen.
Für die Präsentation ihres Vorhabens entwickelten einige der Mitglieder einen etwa
zwanzig Seiten umfassenden verschriftlichten Entwurf, in dem sie sich selbst und ihr
111
Konzept vorstellten. Eine weitere Aufgabe, mit der fast jedes Mitglied betraut wurde,
war es, diesen Entwurf verschiedenen Institutionen, wie beispielsweise
Universitäten, Restaurants und Nichtregierungsorganisationen, zu präsentieren und
dort um finanzielle Unterstützung des Festivals zu werben. Die täglichen Einnahmen
der Kinder wurden schriftlich festgehalten und einem der Straßenhändler anvertraut,
der das Geld für sie verwaltete.
Im weiteren Planungsverlauf bereiteten sich die Kinder mit regelmäßigen Musik-
und Theaterproben auf ihren bevorstehenden Auftritt vor. Ebenfalls wurde über
mehrere Wochen hinweg im Haus eines Künstlers in der Nähe der Straßenkreuzung
Gondomanan, der sein Arbeitszimmer dazu zur Verfügung stellte, von den Kindern
eine Bühnendekoration hergestellt. Darüber hinaus wurden Einladungen an weitere
auf der Straße lebende Freunde der Kinder und Jugendlichen aus anderen Städten
Javas versandt. Die Einladungen erfolgte sowohl schriftlich als auch telefonisch und
wurden durch eine Kontaktperson in der jeweiligen Stadt weiter übermittelt.
Die vorausgehende Darstellung der Festivalvorbereitung halte ich für geeignet, um
anhand dessen weitere Funktionen des sozialen Netzwerkes herauszustellen:
Meines Erachtens war die Grundvoraussetzung für ein Gelingen in diesem Prozess
die Mitarbeit und Zuverlässigkeit eines jeden Mitgliedes der Gruppe, die zum einen
einer Identifikation mit dem Festival als gemeinschaftlichem Produkt erforderte, das
aus eigener Initiative entstand und für das jeder gleichermaßen Verantwortung trug.
Zum Anderen erforderte es von den Organisatoren längerfristiges, planendes und
kooperatives Vorgehen, das erst durch eine Perspektive bzw. ein selbst abgestecktes
und erreichbares Ziel, welches in diesem Fall das Festival darstellte, einen Sinn
bekam. Die gemeinsamen Musik- und Theaterproben gaben ihnen eine Möglichkeit,
sich durch kreatives Schaffen als produktive Subjekte zu erfahren, sich so über
individuelle Fähigkeiten bewusst zu werden und in diesem Prozess voneinander zu
lernen.
Die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit des sozialen Netzwerkes auf der Straße, das
in diesem Kontext viele fehlende institutionelle Funktionen übernimmt, habe ich in
diesem Teil als eine grundlegende Erkenntnis meiner Beobachtungen versucht
herauszustellen und anhand praktischer Beispiele aus dem Lebensalltag der auf der
Straße lebenden Personen zu verdeutlichen.
Eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Förderung individueller Kompetenzen
der GirLi-Mitglieder und der Vermittlung mit anderen Institutionen zur
112
Durchsetzung individueller Belange der Kinder und Jugendlichen übernahmen in
diesem Zusammenhang aber auch in Yogyakarta tätige
Nichtregierungsorganisationen, deren Rolle ich im folgenden Punkt darstellen werde.
2.2.1.8 Die Rolle der Organisationen
Wie ich eingangs in Punkt 2.2.1.2 schon betont habe, spielten die indonesischen
Nichtregierungsorganisationen bereits während der Regierungszeit Suhartos eine
wichtige Rolle, indem sie wesentliche Funktionen im sozial- und bildungspolitischen
Bereich übernahmen, die zu dieser Zeit nicht institutionell durch die Regierung
verankert waren. Ebenfalls waren sie für den Sturz des Militärregimes im Jahre 1998
mitverantwortlich28.
Im Zuge meiner teilnehmenden Beobachtung in der Lebenswelt der auf der Straße
lebenden Kinder und Jugendlichen bekam ich Kontakt zu einigen in Yogyakarta
ansässigen Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Belange der
„Straßenkinder“ einsetzten. Durch meine Mitwirkung in verschiedenen Komitees
und Projekten bekam ich einen Einblick in ihren institutionellen Aufbau und ihre
Arbeit. Welche Rolle diese Organisationen im Bereich der Arbeit mit den
obdachlosen Kindern und Jugendlichen spielen, möchte ich im Folgenden
beispielhaft anhand der Organisation HUMANA versuchen darzustellen:
Die Ursprünge der Nichtregierungsorganisation HUMANA liegen Anfang des
Jahres 1982, als sich ein Zusammenschluss von Student/innen bildete, die daran
interessiert waren, die Situation der auf der Straße lebenden Kinder kennen zu lernen
und die Bevölkerung für diese Problematik zu sensibilisieren. Zunächst suchten sie
die Kinder und Jugendlichen in regelmäßigen Abständen an ihren Aufenthaltsorten
auf. Einer dieser Studenten entschloss sich, sein ursprüngliches Lebensumfeld
aufzugeben und über einige Jahre gemeinsam mit den Kindern auf der Straße zu
leben, um sich so ein umfassenderes Bild von deren Lebenswelt machen zu können.
Gemeinsam mit den Kindern entwickelte er die Idee, eine Unterkunft am Rande des
Flusses (im Indonesischen: pinggir kali, vgl. 2.2.1.5) zu errichten. Durch die
gemeinsame Errichtung dieses Hauses verstärkte sich der Zusammenhalt der Kinder
und Jugendlichen untereinander wesentlich, so dass sie beschlossen, sich selbst zu
organisieren. So entstand zunächst der Zusammenschluss keluarga besar GirLi (vgl.
2.2.1.5).
28 Vgl. http://home.snafu.de/watchin/Dornige_Weg/kristallisierungskeime.htm
113
Erst im Jahre 1990 bildete sich aus diesen ursprünglichen Anfängen heraus offiziell
die Nichtregierungsorganisation HUMANA. Bis 1993 gelang es ihnen, drei
verschiedene Abteilungen zu errichten, durch die jeweils unterschiedliche
Arbeitsschwerpunkte- bzw. –gebiete abgedeckt wurden bzw. werden.
Eine dieser Abteilungen konzentriert sich auf den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit,
in dem es im Wesentlichen darum geht, die indonesische Bevölkerung für die
Situation der auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen zu sensibilisieren und
darüber hinaus die Kooperation des Zusammenschlusses GirLi mit weiteren sozialen
Netzwerken zu fördern und zu stärken. Eine weitere Abteilung befasst sich mit der
Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten für auf der Straße lebende Kinder. Ziel der
Organisation ist es hierbei nicht, die Kinder in bestehende formale
Bildungseinrichtungen zu integrieren, sondern vielmehr, alternative und
lebensweltorientierte Bildungsmöglichkeiten zu entwickeln. So existierte über
mehrere Jahre hinweg das Straßenmagazin JeJal („jeritan jalanan“, im Deutschen:
Schrei der Straße), das mit Hilfe von HUMANA gemeinsam mit den Kindern
entwickelt und monatlich herausgebracht wurde. Dieses Straßenmagazin beinhaltete
von den Kindern eigenständig verfasste Artikel, Gedichte und angefertigte Bilder
und Zeichnungen. Die jeweiligen Ausgaben wurden im Anschluss von den Kindern
selbst in Bussen und auf den Straßen verkauft.
Ebenfalls wurde in den 90er Jahren eine universitas jalanan (im Deutschen:
Straßenuniversität) durch HUMANA ins Leben gerufen, die sich auch an auf der
Straße lebende Kinder anderer Städte Indonesiens richtete. Hier hatten die
teilnehmenden Kinder fünf mal wöchentlich die Möglichkeit, grundlegende Dinge
wie Schreiben, Lesen und Rechnen zu erlernen. Darüber hinaus bestand je nach
Interessen und Fähigkeiten der Kinder auch das Angebot, sich künstlerische
Fertigkeiten wie beispielsweise das Batiken, Musizieren, Dichten oder Zeichnen
anzueignen, bzw. bestehende Fähigkeiten zu vertiefen oder auszubauen. Beide
Programme wurden aufgrund mangelnder finanzieller Mittel mittlerweile eingestellt.
Die dritte Abteilung HUMANAs beschäftigt sich in erster Linie mit der
regelmäßigen Erfassung und Dokumentation der aktuellen Lebenssituation der auf
der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen, um darauf aufbauend neue
lebensweltorientierte Methoden und Konzepte zu entwickeln.
Während der letzten drei Monate meines Aufenthaltes in Yogyakarta wurde den
Kindern und Jugendlichen durch HUMANA eine Unterkunft gestellt, die sich in
114
einem Stadtviertel in der Nähe der Straßenkreuzung, an der sich die Kinder
weitgehend aufhielten, befand. Dieses Haus wurde weitestgehend durch die Kinder
selbstverwaltet, wurde aber auch regelmäßig von einem Mitarbeiter der Organisation,
der mit seinem Namen für die Kinder bürgte und der selber lange Zeit auf der Straße
gelebt hatte, aufgesucht. In erster Linie sollte es den Kindern die Möglichkeit
gewähren, sich vor Übergriffen auf der Straße schützen zu können. Die Kinder und
Jugendlichen nutzten die Unterkunft im Wesentlichen, um dort zu übernachten, ihre
Wäsche zu waschen und zu duschen. Darüber hinaus verlagerten die sich in der
Unterkunft aufhaltenden GirLi-Mitglieder aber auch ihre ursprünglich auf der Straße
stattfindenden Musikproben vermehrt dorthin. Ebenfalls wurde in dieser Unterkunft
mit Hilfe von HUMANA zusammen mit einigen Kindern eine „Straßenbibliothek“
eingerichtet, die von den Kindern selbstverwaltet wurde und bei den auf der Straße
lebenden Personen großen Anklang fand und häufig genutzt wurde. Hier hatten sie
die Möglichkeit, sich jederzeit in der Unterkunft aufbewahrte Bücher auszuleihen
und diese mit auf die Straße zu nehmen.
Von dem eben erwähnten HUMANA-Mitarbeiter ausgehend fanden einmal
wöchentlich Kindersitzungen in der Unterkunft statt, an denen auch ich auf
Einladung der Kinder hin regelmäßig teilnahm. Zu Beginn einer solchen Sitzung
erstellten die Kinder gemeinsam eine Tagesordnung, auf der jeder Einzelne die ihm
wichtigen Diskussionsthemen anbringen konnte, die während ihrer Zusammenkunft
bearbeitet werden sollten. Dies konnten beispielsweise aktuelle Konflikte im
Zusammenleben, akute Probleme bzw. Gefahren im Straßenalltag oder Ideen und
Planungen der Kinder für gemeinsame Projekte oder Aktivitäten sein. Bei diesen
Sitzungen hielten sowohl ich als auch der Mitarbeiter von HUMANA sich
weitgehend mit eigenen Vorschlägen und Ideen zurück, um den Kindern die
Möglichkeit zu geben, selbst über den Verlauf und die Ausgestaltung der Sitzung zu
entscheiden. Wir brachten uns lediglich aktiv mit ein, wenn von Seiten der Kinder
Fragen an uns gerichtet wurden oder sie unsere Hilfestellung benötigten. Einige der
aus den Sitzungen hervorgehenden Ideen der Kinder möchte ich zur
Veranschaulichung kurz darstellen:
So entwickelten sie beispielsweise die Idee, eine „Kinderkasse“ einzurichten, in die
alle Sitzungsteilnehmer täglich einen gemeinsam festgelegten Betrag einzahlten.
Verwaltet wurde das ersparte Geld auf Bitten der Kinder bis zum Ende eines jeden
Monats durch den HUMANA-Mitarbeiter. In den darauffolgenden Sitzungen
115
entwickelten die Kinder eigene Ideen, für welchen Zweck sie dieses Geld
verwenden wollten. So planten die Kinder beispielsweise, als Gruppe mit Fahrrädern
in die etwa 400 Kilometer entfernte Hauptstadt Jakarta zu fahren, kauften sich neue
Instrumente und organisierten erneut ein kleines Festival, das nach meiner Abreise
im Mai 2004 stattfand.
Ebenfalls wurden aber auch aktuelle Probleme aus dem Lebensalltag der Kinder
behandelt, die sowohl sie als auch der HUMANA - Mitarbeiter während der
Sitzungen einbrachten. So überlegten sie sich beispielweise, wie sie als Gruppe sich
bei Gefahrensituationen an ihren Aufenthaltsorten verhalten und besser schützen
könnten, an welche Personengruppen sie sich in Notsituationen wenden und Hilfe
erwarten könnten. Hierbei stützten sie sich im Wesentlichen auf ihre individuellen
Erfahrungen, die sie untereinander austauschten.
Die Eingliederung der Kinder und Jugendlichen in den kampung gestaltete sich
aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas, mit dem sie behaftet sind, zunächst nicht
unproblematisch. So löste die Nachricht, dass HUMANA in ihrem Stadtviertel ein
Haus für die GirLi-Mitglieder anmieten wollte, bei den Anwohnern anfangs große
Empörung und Angst aus. In diesem Fall fungierten die Mitarbeiter der Organisation
als Vermittler zwischen den Kindern und Anwohnern. Es wurden gemeinsame
Treffen und Aktivitäten organisiert, an denen beide Parteien die Möglichkeit hatten,
einander besser kennen und die jeweils unterschiedlichen Lebenssituationen
verstehen zu lernen, um so Vorurteile abbauen zu können. Auch bestand bei diesen
Treffen die Chance, bestehende Konflikte zwischen den Kindern und Anwohnern zu
diskutieren. Hier nahmen die Mitarbeiter eine parteiische Haltung den Kindern
gegenüber ein. Im Verlauf meiner Beobachtungen gelang es, eine erstaunlich große
gegenseitige Akzeptanz der Anwohner im Umgang mit den Kindern aufzubauen. So
wurden die GirLi-Mitglieder vermehrt in Nachbarschaftsaktivitäten miteinbezogen,
und auch sie luden die Kinder der Bewohner zu sich auf die Straße ein, was von
deren Familie nicht unterbunden wurde, um ihnen einen Einblick in ihren
eigentlichen Lebensraum zu verschaffen. Ein meines Erachtens deutliches Zeichen
für den gelungenen Abbau von Vorurteilen unter den Anwohnern war, dass nach
dem Einbruch, der von einem der „Straßenkinder“ in einem Haus des Stadtviertels
verübt wurde, dies als Einzelfall bewertet wurde, und keine Abwertung der gesamten
Gruppe nach sich zog. Viermehr verhandelten Anwohner und Girli-Mitglieder
116
gemeinsam über mögliche Sanktionen, die die betreffende Person als Reaktion auf
den Vorfall erfahren sollte.
Über die bisher geschilderten Aktivitäten der Organisation HUMANA hinaus
gründete sich im November 2003 das Komitee SEACA, das sich aus
Mitarbeiter/innen von etwa zehn Nichtregierungsorganisationen und auf der Straße
lebenden Jugendlichen und Erwachsener zusammensetzte. Die Arbeit dieses
Komitees, in das auch ich mich während meines Aufenthaltes in Yogyakarta etwa
einmal wöchentlich mit einbrachte, bestand darin, einen neuen Gesetzesentwurf zu
entwickeln, um so durch Verhandlungen mit der Kommunalregierung Yogyakartas
eine Gesetzesänderung bezüglich der Regelung einer rechtmäßigen und geachteten
Identität für auf der Straße lebende Personen durchsetzen zu können. In diesem
entwickelten Gesetzesentwurf wurde gefordert, dass eine Registrierung der in
Yogyakarta lebenden Kinder und Jugendlichen bei der Stadtverwaltung auch ohne
vorhandene Geburtsurkunde möglich werden sollte, so dass sie den im Gesetz
verankerten Status eines Staatsbürgers erhalten konnten, um sich somit eine
Grundlage zu schaffen, auf der sie sowohl die damit verbundenen Rechte einfordern
und beanspruchen konnten als auch um eine Handhabe zu gewinnen, um gegen die
Verletzungen ihrer Menschenrechte vorgehen zu können. Bis zum Zeitpunkt meiner
Abreise im Februar 2004 dauerten die Verhandlungen mit der Kommunalregierung
an, ohne dass bislang eine klare Entscheidung gefällt wurde.
Wie anhand dieser Beispiele aufgezeigt werden sollte, nehmen die
Nichtregierungsorganisationen im Bezug auf die Situation der auf der Straße
lebenden Personen vielfältige Funktionen ein, um Bewusstseins- und
Veränderungsprozesse in Gang zu bringen oder zu unterstützen. Dabei wurde, soweit
ich in meinen Beobachtungen erkennen konnte, im Wesentlichen versucht,
Alternativen mit den Kindern und nicht für zu diese entwickeln. Im Mittelpunkt
stand hierbei nicht die Anpassung der Kinder und Jugendlichen an das bestehende
Gesellschaftssystem sondern vielmehr die Aufgabe, Partizipationsmöglichkeiten zu
schaffen und auszubauen, Kompetenzen und ein Bewusstsein über eigene Rechte zu
stärken, was den Kindern und Jugendlichen ermöglichen sollte, ihre Lebenswelt
mitzugestalten und zu verändern.
Im Folgenden Teil der Arbeit, in dem die Reflexion meiner eigenen Person als
teilnehmende Beobachterin in Beziehung zu den Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen in deren Lebenswelt „Straße“ im Mittelpunkt stehen wird, werde ich
117
aber auch die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen, in die ich während meiner
Beobachtungen einen Einblick bekam, kritisch reflektieren, um darauf aufbauend die
von mir erarbeiteten Kriterien bezüglich eines pädagogischen Handlungskonzeptes
für die Arbeit mit den in Yogyakarta auf der Straße lebenden Kindern und
Jugendlichen, die ich in Anlehnung an bestehende Konzepte entwickelte,
darzustellen.
2.2.2 Reflexion
2.2.2.1 Die Erfahrung von Fremdheit
Als teilnehmende Beobachterin im Lebensraum „Straße“ in Yogyakarta war ich in
vielerlei Hinsicht mit der Erfahrung von Fremdheit konfrontiert: zum Einen kam ich
als Europäerin in eine mir zunächst relativ fremde Kultur, deren Normen und Werte
mir bis zu diesem Zeitpunkt zu einem großen Teil unbekannt waren. Darüber hinaus
kam ich in meinem Kontakt zu den auf der Straße lebenden Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen wiederum mit erneut unterschiedlichen Lebensweisen,
Umgangsformen, und Regeln in Berührung, die ich anfangs aufgrund meines
Sozialisationshintergrundes und angesichts meines Unwissens über deren Lebenswelt
nicht verstand. Wie sich mein Erleben von Fremdheit in diesem Kontext äußerte und
welche Schwierigkeiten und Anforderungen sich daraus an mich als „Fremde“
ergaben, möchte ich in diesem Punkt näher erläutern. Dabei werde ich mich bei
meinen Darstellungen weitestgehend auf die Beziehung zwischen mir und den auf
der Straße lebenden Personen beschränken.
Bereits während meiner ersten Begegnung mit den Mitgliedern des
Zusammenschlusses GirLi wurde mir mein „Anderssein“ und das Gefühl von
„Fremdheit“ in vielerlei Hinsicht bewusst. Zunächst war mir diese Personengruppe
und deren Leben gänzlich unbekannt, und auch sie wussten nichts über mich und nur
wenig über meine Herkunft. Die erste Schwierigkeit stellte in dieser Situation die
anfängliche Sprachbarriere dar, die es zu überwinden galt. Abgesehen davon, dass
bereits die Bahasa Indonesia eine Fremdsprache für mich ist, waren mir darüber
hinaus viele der von den Kindern gebrauchten Wörter, Bezeichnungen und
Redewendungen in meinen alltäglichen Verständigungen in Indonesien noch nie
begegnet, so dass dies oftmals im sprachlichen Bereich zu Missverständnissen führte.
Ich entschloss mich fortan, mir ein Wörterbuch anzulegen, wodurch ich mir bei
jedem Besuch an den Aufenthaltsorten der Kinder und Jugendlichen die mir neuen
118
Begriffe notieren und einprägen konnte. Auch die Kinder fragten mich häufig nach
Übersetzungen der von ihnen verwendeten Bezeichnungen und Redewendungen ins
Deutsche und Englische, so dass im Verlauf meines Aufenthaltes daraus ein
wechselseitiger Austausch entstand.
Aber auch in der Begegnung mit anderen Personengruppen, insbesondere bei meiner
Teilnahme an dem von mir in 2.2.1.8 erwähnten Komitee verschiedener
Nichtregierungsorganisationen, in dem ein Gesetzesentwurf erarbeitet wurde, stellte
die sprachliche Verständigung für mich zunächst eine große Schwierigkeit dar, da
mir viele juristische Fachbegriffe bislang nicht bekannt waren. So gelang es mir
anfangs nur durch starke Konzentration und häufiges Nachfragen, Diskussionen zu
folgen. Auch musste ich meine Angst, bei meiner aktiven Teilnahme an Gesprächen
Ausdrucksfehler zu machen, überwinden.
Über die sprachliche Barriere hinaus äußerte sich das Empfinden von Fremdheit als
teilnehmende Beobachterin auch in der täglichen Interaktion im Lebensraum
„Straße“ durch mein anfängliches „Nichtverstehen“ von
Bedeutungszusammenhängen, Umgangsformen, Normen und Werten, die mir so aus
meiner Lebenswelt nicht bekannt waren bzw. die dort so nicht existieren .
Die sich aus meinem anfänglichen „Nichtverstehen“ ergebenden Missverständnisse
und Regelverletzungen meinerseits möchte ich anhand eines Beispiels aus meinem
Forschungstagebuch veranschaulichen:
4. Oktober 2003
„ Nach meinem ersten Besuch bei den GirLi-Mitgliedern an der Kreuzung bin ich
heute zum ersten Mal auf der Jalan Malioboro gewesen und lernte etwa zehn weitere
dort lebende Personen kennen. Die meisten von ihnen waren Jugendliche und
Erwachsene. Begleitet wurde ich von den Kindern, die ich gestern an der Kreuzung
kennen gelernt hatte. Bei meiner Ankunft saßen alle gemeinsam am Straßenrand in
einer Runde beisammen, aßen und tranken. Als sie meine Anwesenheit bemerkten,
reagierten sie zunächst recht skeptisch, gleichzeitig aber auch neugierig. Ich wurde
gefragt, wo ich herkäme, was ich hier wolle und ob ich von einer
Nichtregierungsorganisation beauftragt sei, zu ihnen zu kommen. Ich antwortete
ihnen, dass ich allein hier sei, um ihre Lebenssituation auf der Straße kennen zu
lernen.
Daraufhin forderten sie mich auf, mit ihnen zu essen und zu trinken. Anfangs lehnte
ich höflich ab, da ich ihnen nichts von ihrem meiner Ansicht nach knapp bemessenen
Essen nehmen wollte und ich bisher nie Essensreste der Garküchen direkt von der
119
Straße gegessen hatte. Im übrigen hatte ich nirgendwo die Möglichkeit, mir meine
Hände zu waschen. Als sie mich wiederholt eindringlicher dazu aufforderten,
wenigstens ein bisschen mit ihnen zu essen, willigte ich schließlich ein. Sie gaben mir
eine saubere Plastiktüte, die ich mir als Schutz über die Hand stülpen sollte, mit der
ich dann aß. Auch einige von ihnen benutzten Plastiktüten. Also teilte ich mir die
Essensportion mit weiteren zehn Personen. Ganz ähnlich ging es mir, als mir etwas
von ihrem Getränk angeboten wurde. Es war in einer Plastiktüte verpackt und sie
sagten mir, es hieße Lapen und sei ein alkoholisches Mischgetränk. Davon zu trinken
lehnte ich trotz unzähliger Aufforderungen bis zum Ende des Abends ab, da ich nicht
wusste, was es war und Angst vor den Auswirkungen hatte.“
An diesem Beispiel möchte ich mehrere Aspekte im Hinblick auf meine Erfahrung
von Fremdheit versuchen zu verdeutlichen:
Zuerst einmal war die von mir geschilderte Situation für mich mit Angst und Skepsis
verbunden. So bekam ich von einer mir bis dahin fremden Personengruppe, zu der
ich bislang keine Beziehung aufgebaut hatte und die in der von mir beschriebenen
Situation noch skeptisch auf meine Anwesenheit reagierte, Essen angeboten, was für
mich bereits ungewöhnlich und befremdlich war. Eher hätte ich ein abwehrendes und
abgrenzendes Verhalten mir als Fremdem gegenüber erwartet, da ich zunächst die
Rolle eines Eindringlings in ihre Lebenswelt einnahm. Darüber hinaus verwunderte
mich, dass es sich nicht nur um ein einmaliges Angebot handelte, sondern um
eindringliche Aufforderungen, aus denen ich schlussfolgerte, dass von mir erwartet
wurde, mit ihnen gemeinsam zu essen. Hierbei geriet ich aus meinem Vorverständnis
über die materielle Armut dieser Personen zunächst in den Konflikt, ihnen einerseits
nichts von ihrem Essen nehmen zu wollen, andererseits aber auch nicht unhöflich
sein zu wollen. Ebenfalls löste die Art und Weise des Essens an sich zu dieser Zeit
ein befremdliches Gefühl bei mir aus. Zum Einen hatte ich mir nie zuvor gemeinsam
mit mir fremden Personen eine Portion Essen geteilt, zum Anderen war es darüber
hinaus auch das erste Mal für mich, dass ich dazu eine Plastiktüte benutzte. Wie ich
in späteren Begegnungen feststellte, war diese Begebenheit über die Höflichkeit
hinaus, die die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mir mit ihrem Angebot
erwiesen, auch eine Testsituation, die mitunter ausschlaggebend war für die spätere
Akzeptanz meiner Person durch die Gruppe. So hatte ich mich, indem ich ihr
Angebot zunächst ablehnte, was mir aufgrund meines Sozialisationshintergrundes
richtig und höflich erschien, unwissentlich in ihren Augen höchst respektlos und
120
unhöflich verhalten und galt zunächst als orang sombong (im Deutschen: arrogante
Person), da sie aus meinem ablehnenden Verhalten schlossen, das mir angebotene
Essen sei mir nicht gut genug.
Ebenso befremdlich wirkte auf mich in vielfacher Hinsicht zunächst das
Konfliktverhalten der Kinder und Jugendlichen, da ich anfangs gänzlich unfähig war,
sich anbahnende Auseinandersetzungen und Eskalationen im Vorfeld erspüren bzw.
wahrnehmen zu können, da es für mich keine erkennbaren Anzeichen gab, die darauf
hinzudeuten schienen. So kamen gewalttätige Auseinandersetzungen aus meiner
Perspektive betrachtet anfangs völlig überraschend und unerwartet, ohne, dass es
eine für mich wahrnehmbare Ankündigung dafür gegeben hätte. In den seltensten
Fällen ging ein Streit mit einer lauten verbalen Auseinandersetzung einher, die ich
als Anzeichen für einen Konflikt hätte interpretieren können. Für die auf der Straße
lebenden Personen hingegen war meist bereits im Vorfeld eine mögliche
bevorstehende Eskalation spürbar. Ebenso wenig war es mir zunächst möglich zu
erkennen, wenn ich selbst aufgrund unerfüllter Erwartungen oder unbewusster
Regelverletzungen ein Problem ausgelöst hatte, da dies in den meisten Fällen nicht
explizit geäußert wurde, sondern mir vielmehr auf nonverbalen Ebenen zu verstehen
gegeben wurde, die ich zu Anfang kaum wahrnahm. Häufig war ich daher
insbesondere anfangs darauf angewiesen, mich in der mir noch fremden Lebenswelt
in die Position des Lerners zu begeben, indem ich mir von den GirLi-Mitgliedern
bestehende Regeln der alltäglichen Verständigung miteinander erklären ließ und ich
auf bevorstehende Gefahrensituationen aufmerksam gemacht wurde, da ich diese in
den ersten Wochen meiner Beobachtungen selbst nur sehr schwer einschätzen
konnte. Des weiteren schien es mir anfangs unmöglich, bestehende Hierarchien,
Sympathien und Antipathien innerhalb der Gruppe wahrzunehmen, da die mir
bislang vertrauten Interpretationsmuster in diesem Kontext keine Grundlage mehr
darstellten, individuelle Beziehungsdefinitionen und –strukturen zu erkennen. Diese
Schwierigkeit führe ich mitunter darauf zurück, dass ich in meiner Lebenswelt
weitestgehend mit offensiveren und somit für mich besser ersichtlichen und
interpretierbaren affektiven Emotionsäußerungen konfrontiert worden bin, die für
mich eine Orientierung darstellten und durch die mir die individuelle Beschaffenheit
zwischenmenschlicher Beziehungen besser erfassbar wurden. Diese Offensivität auf
der Beziehungsebene und das öffentliche Austragen von Konflikten ist hingegen im
indonesischen Gesellschaftssystem und auch in dem von mir beobachteten
121
Lebensraum „Straße“, soweit ich in meinen Beobachtungen feststellen konnte, eher
unüblich (vgl. 2.2.1.3).
Den eher konfliktvermeidenden Umgang der auf der Straße lebenden Personen
untereinander, relativ unabhängig von dem Gesellschaftssystem betrachtet, in dem
sie leben, führe ich darüber hinaus aber auf die Notwendigkeit zurück, als
Individuum in einer höchst heterogenen Gruppe hinsichtlich des Alters, der
ethnischen Zugehörigkeit und des biographischen Hintergrundes in ein und dem
selben Lebensraum bestehen zu können bzw. zu müssen.
Ein weiteres mir zunächst unvertrautes Element im lebensweltlichen Kontext der
Kinder und Jugendlichen war deren Bezug zu materiellem Besitz. Wie ich bereits in
meiner Darstellung der Strukturen des sozialen Netzwerkes angesprochen habe,
schien meinen Beobachtungen zufolge jegliche Art von Besitz der Gemeinschaft zu
gehören. Zwar wurde in diesem Zusammenhang von mir nicht den gesamten
Zeitraum meiner Beobachtungen überdauernd die gleiche Bereitschaft, mein
Eigentum zu tauschen, zu verschenken oder zu teilen erwartet. Dennoch galt sie
mitunter, wie bereits in Punkt 2.2.1.7 beschrieben, als eine Voraussetzung für die
Akzeptanz einer neuen Person in der Gruppe. Meine persönliche Tauschbereitschaft
machte ich im Verlauf meiner Beobachtungen stark von situationsspezifischen
Kontexten abhängig. Zu meiner anfänglichen Überraschung wurde jedoch materieller
Besitz von den Kindern und Jugendlichen oftmals auch lediglich verschenkt, ohne
dass sie einen Gegenwert dafür erwarteten. Auch hier geriet ich in den Konflikt,
materielle Güter der Kinder aus meinem anfänglich sehr begrenzten Verständnis
ihrer Armut heraus zunächst nicht annehmen zu wollen, da ich vielmehr den
materiellen Verlust des Kindes fokussierte als die Möglichkeit ins Auge zu fassen,
dass das Verschenken oder Tauschen materiellen Besitzes in diesem Kontext von
gruppendynamischer und ritueller Bedeutung sein könnte (vgl. dazu: Hadar 1999,
S.168).
Ein mir darüber hinaus in höchstem Grade befremdliches Ereignis, mit dem ich
während meines Aufenthaltes konfrontiert wurde und das ich im Folgenden anhand
eines Tagebuchauszuges darstellen und erläutern möchte, war der Umgang der
Kinder und Jugendlichen mit dem Tod:
122
15. Dezember 2003
„Gestern Nachmittag ist Agus29 gestorben. Er hatte in einem Rohbau in der Nähe der
Einkaufsmeile geschlafen und war nicht mehr aufgewacht. Seine Freunde fanden ihn
tot auf und gaben sofort allen anderen Kindern Bescheid. Ich war zu diesem Zeitpunkt
auf der Jalan Malioboro, wo ich die Nachricht von einem der Kinder erhielt.
Gemeinsam mit den anderen Kindern, die mich aufforderten mitzukommen, ging ich
zu dem Ort, an dem er sich befinden sollte. Ich hatte große Angst davor, den toten
Agus zu sehen. Ich schätze, er war nicht älter als 17 Jahre. Bei unserer Ankunft waren
bereits unzählige Kinder und Jugendliche dort versammelt, die sich nach und nach in
diesem Rohbau von ihm verabschiedeten. Auch Mitarbeiter von HUMANA waren
gekommen Ich ging trotz meiner Angst mit den Kindern hinein. Agus lag ganz
friedlich auf dem Boden. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen
Toten gesehen hatte, und noch dazu ein Kind, das ich kannte! Die Atmosphäre
empfand ich als so bedrückend, dass ich froh war, den Raum schnell wieder verlassen
zu können. Als sich alle von Agus verabschiedet hatten und er von einem
Leichenwagen weggebracht wurde, gingen wir gemeinsam auf die Jalan Malioboro
zurück. Dort saßen nun bis zum späten Abend alle beisammen. Die Älteren überlegten
zuerst gemeinsam mit den HUMANA – Mitarbeitern, was nun am besten zu
unternehmen sei. Die Jüngeren saßen während dessen am Straßenrand, unterhielten
sich über Agus und spielten Gitarre. Als die Beratungen über das weitere Vorgehen
abgeschlossen waren, gesellten sich auch die Älteren dazu und wir aßen und tranken
zusammen. Ich fühlte mich ziemlich überfordert mit der Situation, da ich das Gefühl
hatte, der Tod ihres Freundes sei für die Kinder fast eine normale Alltagserscheinung.“
Das Miterleben dieser Begebenheit war für mich in mehrerlei Hinsicht mit dem
Erleben von Fremdheit verbunden: Zunächst war es, wie in dem Tagebuchauszug
bereits deutlich wird, das erste Mal für mich, dass ich so direkt mit dem Tod eines
mir bekannten Menschen konfrontiert wurde. Da ich nie zuvor eine tote Person
gesehen hatte, löste dieses Erlebnis Angst und Abwehr bei mir aus. Des weiteren war
mir der Umgang der Kinder und Jugendlichen mit dem Tod sehr befremdlich, da sie
gezwungen waren, ihn als einen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens zu
akzeptierten. Zwar schienen sie traurig über den Verlust eines Freundes zu sein,
empfanden den Tod an sich aber eher als ein „gewöhnliches“ Ereignis, das als eine
selbstverständliche Erscheinung zu ihrem Leben dazu gehörte. Dass dieser
akzeptierende Umgang für mich angstauslösend und befremdlich war, führe ich in
29 Die Namen der in meinen Tagebuchauszügen erwähnten Personen habe ich geändert.
123
erster Linie auf meinen eigenen kulturellen Kontext zurück, in dem der Tod
weitestgehend als eine negative, zu verdrängende Randerscheinung außerhalb des
alltäglichen Lebens tabuisiert wird. Zwar werden wir, insbesondere durch
Mediendarstellungen, tagtäglich mit der Allgegenwärtigkeit des Todes konfrontiert.
Im alltäglichen Leben hingegen verlagert sich die Sterbephase und der Tod an sich
zunehmend in Institutionen wie Krankenhäuser und Hospize. Das heißt, er nimmt in
unserem direkten Umfeld keinen wesentlichen Bestandteil ein und lässt uns somit
eine gewisse emotionale Distanz zur Unausweichlichkeit seines Eintretens aufbauen.
Durch diese Verlagerung verringert sich somit die allgegenwärtige Konfrontation mit
der Präsenz des Todes an sich in unserem persönlichen Alltagsleben.
In dem von mir beschriebenen Kontext stellte die Konfrontation mit dem Tod
hingegen ein zum Alltag der Kinder und Jugendlichen gehörendes Ereignis dar. Dies
ist sicherlich durch vielfältige Faktoren mitbedingt: zum Einen mitunter durch deren
mangelnden Zugang zu institutioneller medizinischer Versorgung, zum Anderen
aufgrund der Tatsache, dass sie in ihrem lebensweltlichen Kontext aufgrund von
(struktureller) Gewalt, Mangelernährung und Substanzenkonsum in einem erhöhten
Maße gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, die mitunter in ihrem direkten
Umfeld zu einem frühzeitigen Tod von Bezugspersonen geführt haben. Darüber
hinaus war ein Großteil der Kinder und Jugendlichen im Zuge von Vertreibung und
Bürgerkriegen, insbesondere aber auch während der Studentenrevolten im Jahre
1998, in ihrem Lebensraum mit dem gewaltsamen Tod von Angehörigen oder
Freunden konfrontiert.
Nur durch ein Einlassen auf die von mir beobachteten Lebenswelt gelang es mir
zunehmend, bestimmte Regeln im alltäglichen Umgang, Kontexte und Perspektiven
zu erfassen bzw. zu erlernen und zu verstehen. Erst so war es mir möglich, mich in
die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, zu denen ich in Beziehung stand,
hineinzuversetzen und deren situationsspezifischen Handlungsstrategien ansatzweise
zu verstehen, die für mich erst in ihrem lebensweltlichen Kontext und meinem
zunehmenden Verständnis darüber eine Bedeutung bekamen. In diesem Prozess
merkte ich immer stärker, dass die mir vertraute Ordnung brüchig wurde, da viele
Bestandteile in Form von Regeln, Umgangsformen, Werten und
Bedeutungszusammenhängen in diesem Kontext nicht mehr relevant waren.30
Gleichzeitig kam es, bedingt durch meinen kulturellen Hintergrund, trotz der von mir 30 Der Aspekt der Re-/De-/Konstruktion eigener Ordnungen wird im folgenden Punkt noch ausführlicher behandelt.
124
angestrebten Offenheit gegenüber dem mir bis dahin „Fremden“ aber auch immer
wieder zu Missverständnissen und Regelverletzungen meinerseits. Während es mir
hinsichtlich der Regeln, Normen und Werte, die die alltägliche Interaktion
mitbestimmten, zunehmend einfacher gelingen konnte, mich in diese Ordnung
einzufinden, sie anzunehmen und zu verstehen und mich gleichzeitig von gewissen
Vorverständnissen und eigenen Vorstellungen zu distanzieren, stieß ich jedoch in
meiner aktiven Teilnahme im Beobachtungsfeld auch immer wieder erneut an
Grenzen meines Verstehens, die mich die Begrenztheit der Offenheit meiner
Beobachterperspektiven und den Einfluss meines kulturellen Kontextes auf meine
Wahrnehmung der für mich anfangs befremdlichen Lebenswelt fortwährend bewusst
werden ließen. Diese Grenzen nahm ich am deutlichsten im Bezug auf
unterschiedliche Identitätsverständnisse der Kinder und Jugendlichen, zu denen ich
während meiner Beobachtungen in Beziehung stand, in Abgrenzung zu meinem
Eigenen wahr. So empfand ich, ohne an dieser Stelle homogenisierend und wertend
vorgehen zu wollen, meine zunehmende Einbindung in das soziale Netzwerk, die aus
dem intensiven Kontakt zu den GirLi-Mitgliedern erwuchs, teilweise als einengend,
hatte jedoch gleichzeitig Schwierigkeiten, mich davon abzugrenzen. Aus meinem
eigenen Identitätsverständnis, dass mitbedingt durch meinen Sozialisationskontext
sicherlich eher individualistisch geprägt ist (vgl. 1.3.1), war es mir nur bedingt
möglich, mich von meinem Bedürfnis nach Rückzug bzw. Abgrenzung von der
Gruppe und der Umsetzung eigener Belange zu distanzieren und mich stattdessen als
Bestandteil der Gemeinschaft zu definieren, ausschließlich die Belange der Gruppe
zu fokussieren und die mit einem Selbstverständnis als Teil des Netzwerkes
verbundenen Erwartungen zu erfüllen. Obgleich selten explizit Erwartungen bzw.
Ansprüche von Seiten der Gruppenmitglieder an mich gerichtet wurden, befand ich
mich dennoch, bedingt durch meinen täglichen und intensiven Kontakt zu ihnen und
durch meine Teilnahme an ihrem Lebensalltag, in einem Prozess der ständigen
wechselseitigen Neudefinierung meiner Beziehung zu dieser Lebenswelt und den
dort lebenden Personen. Somit veränderten sich gleichermaßen auch Erwartungen
und Ansprüche, denen ich versuchte, soweit es mir möglich war gerecht zu werden.
Große Schwierigkeiten hatte ich während meines Aufenthaltes in Indonesien, mit
dem mir anhaftenden Sonderstatus umzugehen, der sich bereits zwangsläufig aus
meinem andersartigen Aussehen konstituierte. So hatte ich das Gefühl, dass mir als
Europäerin in vielen Begegnungen mit Menschen in meinem Alltag in Indonesien
125
aufgrund meiner Herkunft mit Hochachtung und Bewunderung begegnet wurde, was
sich in vielen Situationen durch die ausschließliche Konzentration des Geschehens
auf meine Person äußerte. So bekam ich im Umgang anderer Personen mit mir
oftmals den Eindruck, man sehe mich bereits im Vorfeld als die „Besserwissende“
an, obgleich sich die Gespräche unter Umständen um Dinge handelten, in denen eher
ich die „Unwissende“ war. Auch wurde das, was den mit mir in Beziehung tretenden
Personen über mein Herkunftsland bekannt war, als fortschrittlich, modern und
erstrebenswert angesehen. Zum Einen führe ich diese Ansichten auf ein durch die
Medien verzerrt vermitteltes Bild „des Westens“ zurück, zum Anderen auf die von
den älteren Generationen überlieferte Erlebnisse aus der Kolonialzeit. In diesem
Kontext sind aber darüber hinaus sicherlich vielfältige Faktoren von Bedeutung. So
darf an dieser Stelle keinesfalls die Bewusstmachung nach wie vor vorhandener
Dominanz der Industriestaaten hinsichtlich wirtschaftlicher Interessen,
wissenschaftlicher Diskurse und der Produktion von Wissen vernachlässigt werden
(vgl. auch 1.3.4). Diese Faktoren sind meines Erachtens wesentlich im Hinblick auf
den unterschiedlichen Umgang mit „Fremdheit“ in Gesellschaftssystemen, was
gleichzeitig die Einordnung dieser Reaktionen in historische und globale Strukturen
erfordert. Während ich diesen Sonderstatus im Verlauf meiner Beobachtungen in der
Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen und auch im Bezug zu anderen
vertrauten Kontaktpersonen mit zunehmender Vertrautheit verlor, sah ich mich in
neuen Begegnungen außerhalb dieses sozialen Feldes fortwährend damit
konfrontiert. Zunächst reagierte ich abwehrend auf die Behandlung, die mir
entgegengebracht wurde, da sie mir höchst befremdlich erschien und ich der Ansicht
war, der mir verliehene Status entbehre jeglicher mir nachvollziehbaren Grundlage.
Erst durch die Einordnung in einen historischen und kulturellen Kontext verstand
ich, dass ich in diesen Begebenheiten unabhängig von meinem Verhalten wenig an
diesem Machtgefälle würde verändern können und lernte, es zunächst in diesen
spezifischen Begegnungen akzeptieren zu müssen, einhergehend mit dem
gleichzeitigen Versuch, es durch mein Verhalten zu relativieren.
Ebenso lernte ich aber in diesem Prozess, der für mich mit vielen Grenzerfahrungen
verbunden war, die Veränderlichkeit eben dieser eigenen Grenzen des Verstehens
und der begrenzten Gültigkeit der eigenen Ordnung kennen, da Elemente dieses mir
zunächst fremden Lebensraumes, die anfangs teilweise Angst oder Ablehnung bei
mir hervorriefen, mir zunehmend vertrauter wurden und ich sie in diesem Kontext als
126
einen Bestandteil meines „normalen“ Alltags ansah bzw. annahm. So gewann
beispielsweise das gemeinsame Essen und Trinken nach einiger Zeit für mich an
ganz neuer Bedeutung und ich erkannte, dass es über die reine Befriedigung der
Grundbedürfnisse hinaus mitunter auch dem kommunikativen Austausch der Kinder
und Jugendlichen untereinander diente, das Selbstverständnis der Individuen als Teil
der Gemeinschaft förderte und somit vielfältige Funktionen erfüllte.
Die Annahme der mir zunächst fremden Elemente war allerdings zunächst mit einer
intensiven Auseinandersetzung und kritischen Reflexion der mir bis dahin vertrauten
Vorstellungen, Normen und Werte verbunden, auf die ich mich im folgenden Punkt
konzentrieren möchte.
2.2.2.2 Re-/De-/Konstruktion eigener Vorstellungen, Normen und Werte
Wie ich im Bezug auf mein Erleben von Fremdheit bereits versucht habe
darzustellen, wurde mir im Verlauf meiner Beobachtungen mit der zunehmenden
Vertrautheit, die ich der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gegenüber
entwickelte, vermehrt die Begrenztheit der Gültigkeit eigener Vorstellungen,
Normen und Werte bewusst. So wurde ich in vielen Bereichen des Lebensalltags vor
die Anforderung gestellt, diese vor dem Hintergrund meiner eigenen Lebenswelt zu
betrachten und zu analysieren, sie kritisch zu hinterfragen. Oftmals wurden mir
gewisse Vorstellungen erst im Kontext meiner Begegnung mit dieser mir anfangs
fremden Lebenswelt und der Auseinandersetzung mit den dort lebenden Kindern und
Jugendlichen ersichtlich.
Zunächst einmal wurde mein kulturell geprägtes Verständnis von Kindheit als
Schonraum durch die Begegnung mit den auf der Straße lebenden Kindern
subvertiert, da ihnen weder von Seiten der Gesellschaft noch von familiärer Seite ein
ökonomischer und emotionaler Schutzraum zukam. Gleichzeitig stellte ich mir im
Verlauf meiner Beobachtungen aber auch die Frage, inwiefern es legitim sei, dieses
Kindheitsbild zu universalisieren, was in Abgrenzung zum Lebensraum „Straße“
gleichzeitig eine rein defizitäre Betrachtungsweise des lebensweltlichen Kontextes
der Kinder und Jugendlichen mit sich bringen würde. Zwar stand diesen Kindern in
ihrem Lebensraum, der Straße, nur begrenzt ein Schonraum zur Verfügung, wodurch
sie mitunter vielfältigeren Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt waren.
Gleichzeitig erkannte ich aber auch, dass sie diesen Problemen nicht hilflos und
passiv ausgesetzt waren, sondern unzählige Kompetenzen und Handlungsstrategien
127
entwickelt hatten, die sie dazu befähigten, mit ihrer Lebenssituation umzugehen, sie
im Rahmen ihrer Möglichkeiten individuell mit zu gestalten bzw. zu verändern und
sich vor Gefahren zu schützen. An dieser Stelle soll auch nochmals auf die
Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder, die ich eingangs in
Punkt 2.2.1.7 dargestellt habe und die meines Erachtens in diesem Kontext eine
wesentliche Rolle spielen, hingewiesen werden. So entwickelte ich zunehmend
größere Achtung vor den Fähigkeiten und der Eigeninitiative der Kinder und
Jugendlichen, denen ich während meines Aufenthaltes regelmäßig begegnete. Damit
einhergehend wurde nicht nur mein bis dahin vorherrschendes Bild von Kindheit,
sondern auch mein Vorverständnis, das ich insbesondere von dieser Personengruppe
hatte, relativiert. Bei meinen anfänglichen Vorstellungen von auf der Straße lebenden
Kindern standen zunächst die in dieser Lebenswelt existierenden Missstände im
Vordergrund meiner Betrachtung, und damit verbunden wurde meine Wahrnehmung
anfangs geprägt bzw. beeinflusst durch mein Bild der Kinder als hilflose,
schutzbedürftige Opfer ihrer Situation. Im Prozess der Annährung an deren
Lebenswelt veränderte sich diese Vorstellung radikal, weil ich die Kinder als
Subjekte kennen lernte, die innerhalb ihres lebensweltlichen Kontextes dazu
gezwungen, aber auch in der Lage waren, die alleinige Verantwortung für die
Gestaltung und den Schutz ihres Lebens zu übernehmen. Somit veränderte sich
gleichzeitig meine im Vorfeld bestehende Vorstellung über die mögliche Position
eines Erwachsenen bzw. eines Pädagogen in diesem lebensweltlichen Kontext und in
Beziehung zu dem Kind. Während ich zunächst der Ansicht war, der Erwachsene
müsse als „Mehrwisser“ eine anleitende Rolle hinsichtlich der grundlegenden
Lebensbewältigung der Kinder einnehmen, kam ich mehr und mehr zu der Einsicht,
dass vielmehr die Kinder selbst aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis über ihren
Lebensraum und ihrer individuellen Kompetenzen in der Bewältigung ihres Alltags
in diesem Kontext als „Experten“ ernstgenommen und respektiert werden sollten,
wohingegen der zu ihnen in Beziehung stehende Pädagoge sich meines Erachtens
zunächst in die Position des Lernenden begeben sollte. Somit wurde für mich die
Notwendigkeit einer erwachsenen Person in der Funktion eines
Erziehungsberechtigten, der den Lebensraum der Kinder für diese regelt und
umgestaltet grundsätzlich fragwürdig.
In einen Konflikt geriet ich hier allerdings bezüglich des regelmäßigen
Drogenkonsums der Kinder, mit dem ich wiederum in meiner Begegnung mit ihnen
128
fortwährend konfrontiert wurde und dem ich zunächst ratlos und schockiert
gegenüberstand. Einerseits begriff ich mich als erwachsene teilnehmende
Beobachterin, insbesondere in Situationen, in denen ich den Kleber-Konsum der
Kinder beobachtete, in einer Position, in der ich verpflichtet war, zu handeln.
Andererseits war mir bewusst, dass weder ein Verbot noch eine Aufklärung über die
Gefahren des Konsums, die den Kindern aus eigener Erfahrung längst bekannt
waren, langfristig irgendetwas bewirken würden. Im Verlauf meiner Beobachtungen,
außerhalb der Situationen des eigentlichen Konsums, versuchte ich also vielmehr,
von den Kindern selbst zu erfahren, was sie insbesondere zu dem regelmäßigen
Gebrauch von Kleber veranlasste, welche Gefühle und Gedanken der Rauschzustand
bei ihnen hervorrief, um so mögliche Ursachenfaktoren bzw. ihre Motivation
ansatzweise verstehen zu können. Gleichzeitig fragte ich sie auch nach den von ihnen
wahrnehmbaren Begleiterscheinungen, die der regelmäßige Gebrauch dieser
Substanz mit sich brachte. Darüber hinaus brachte ich ebenso zum Ausdruck, was ihr
Drogenkonsum bei mir auslöste. So hatte ich das Gefühl, dass, ohne die eigentliche
Situation dadurch kurz- oder langfristig verändert zu haben, doch eine wechselseitige
Auseinandersetzung mit der Problematik stattfinden konnte.31
Meine Überraschung über die Fähigkeit der Kinder, innerhalb ihres Lebensraues eine
Vielfalt von Handlungsstrategien, Kompetenzen und Fertigkeiten zu entwickeln,
brachte mich allerdings zeitweise in die Gefahr, bestehende Missstände innerhalb
ihrer lebensweltlichen Kontexte bei meinen Beobachtungen zu vernachlässigen und
mich fast ausschließlich auf diese vorhandenen Potentiale zu konzentrieren. So
erforderte es eine fortwährende Auseinandersetzung und Reflexion meiner
Beobachterperspektive, um im Umgang mit meiner Überraschung eine Idealisierung
ihrer Lebenswelt zu vermeiden und einen weiten Blickwinkel der Beobachtung
beizubehalten.
Im Kontext meiner Begegnung mit den auf der Straße lebenden Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen veränderte sich ebenfalls mein bestehendes
Vorverständnis von Armut. So hatte für mich Armut bis dahin im Wesentlichen
einen Mangel an materiellen Gütern bedeutet, während ich immaterielle Faktoren
bzw. Dimensionen, die ich eingangs in Punkt 2.2.1.6 bereits ausführlicher dargestellt
habe, in meinem ursprünglichen Verständnis weitgehend vernachlässigt hatte. Soweit
ich aus meinen Beobachtungen erfahren konnte, spielte im lebensweltlichen Kontext 31 Die Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Problematik werden auch im Bezug auf Kriterien für pädagogische Handlungskonzepte noch eine Rolle spielen.
129
der Kinder und Jugendlichen zwar auch die Komponente der materiellen Armut eine
Rolle. Jedoch erschienen mir immaterielle Armutsdimensionen wie die
gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung, der Mangel an Zuwendung und
Schutz vor Gewalt und das Leben ohne einen gesellschaftlichen Status wesentlich
weitreichendere Konsequenzen für die Möglichkeiten der individuellen
Lebensgestaltung zu haben, da ihnen somit offiziell jeglicher Weg zur Entwicklung
längerfristiger Perspektiven, zur Integration in die Gesellschaft und der
Durchsetzung ihrer Rechte weitgehend verwehrt blieb.
Einen weiteren wichtigen Aspekt stellten für mich die Regeln, durch die der
kommunikative Austausch sowie das Konfliktverhalten der Kinder und Jugendlichen
geprägt wurde, dar (vgl. 2.2.1.7), da diese sich in einigen Elementen stark von den
mir bis dahin vertrauten Formen der zwischenmenschlichen Interaktion
unterschieden. Während meiner Ansicht nach in meinem lebensweltlichen Kontext
ein aktiver und konfrontativer Umgang mit Problemen in Form von expliziter
Äußerung eigener Ansichten oder Kritik als Element der Kommunikation
weitestgehend akzeptiert ist, galt der Gebrauch dieser Form der alltäglichen
zwischenmenschlichen Interaktion in dem Feld meiner Beobachtungen als
respektlos, regelverletzend und destruktiv. As heißt, dass ich also anfangs, ausgehend
von meinen Vorstellungen, in diesen Begegnungen versuchte, die Kinder darin zu
bestärken, gruppeninterne Hierarchien zu hinterfragen und sich bei Verletzungen
ihrer Rechte offensiv verbal zur Wehr zu setzen, im weiteren Verlauf meiner
Auseinandersetzung mit deren Lebenswelt aber verstand, dass dies vor ihrem
individuellen Sozialisationshintergrund und im Kontext ihrer gruppeninternen Rollen
für sie alles andere als erstrebenswert war. Zunächst unbewusst hatte ich in diesem
Zusammenhang den Fehler begangen, die mir vertrauten Werte und Regeln als
absoluten Maßstab anzusehen und war dabei unreflektiert davon ausgegangen, sie
seien unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Kontextbedingungen gültig.
Des weiteren hatte ich mir unbekannte, teilweise nonverbale Formen des Ausdrucks
in der alltäglichen Verständigung und deren Bedeutung, nicht wahrgenommen und
ging folglich fälschlicherweise davon aus, sie seinen nicht vorhanden. Darüber
hinaus schien den Kindern der Aspekt der Durchsetzung eigener individueller Rechte
innerhalb der Gruppe völlig unverständlich, da sie aufgrund ihrer Identitätsdefinition
als Bestandteil der Gruppe die Durchsetzung und den Schutz gemeinschaftlicher
Belange als viel wesentlicher erachteten als den Gewinn individueller Freiheit. Erst
130
durch eine Auseinandersetzung mit den mir bisher vertrauten Regeln der Interaktion,
deren Gültigkeit ich in diesem Prozess vorübergehend relativieren musste, und einer
zunehmenden Annährung und Wahrnehmung mir neuer Kommunikationsstrukturen
in der indonesischen Gesellschaft, insbesondere der dort auf der Straße lebenden
Kinder und Jugendlichen, konnte es mir gelingen, Dinge wahrzunehmen, die ich bis
dahin übersehen hatte. So erschloss sich für mich durch diese Re- und
Dekonstruktion der mir vertrauten Kommunikationsnormen ein besseres Verständnis
für die Bedeutungen individueller als auch gruppeninterner Umgangsformen der
Kinder und Jugendlichen untereinander sowie über deren Art und Weise der
Konfliktbewältigung. Daraus ergab sich für mich aber gleichzeitig die Anforderung,
meine alltäglichen Kommunikationsstrukturen in der Interaktion mit den Kindern
und Jugendlichen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern, um
sowohl Missverständnisse und Regelverletzungen zu vermeiden als auch, um meine
Akzeptanz innerhalb der Gruppe überhaupt aufrechterhalten zu können. Dieser
Anforderung gerecht zu werden, war für mich aufgrund der Andersartigkeit mir
vertrauter Strukturen und Bedeutungsmustern mit einigen Schwierigkeiten
verbunden. So löste konfliktvermeidendes Verhalten und ein zurückhaltender
Umgang hinsichtlich der Äußerung von Emotionen und Kritik bei mir in vielen
Begebenheiten zunächst Verwirrung aus, da mir, abgesehen von den mir vertrauten
Interaktionsmustern, keine Grundlage zur Verfügung stand, diese Verhaltensweisen
entsprechend zu interpretieren. Ebenfalls fiel es mir schwer, mich bei meiner aktiven
Teilnahme am kommunikativen Austausch der mir zunächst fremden Muster zu
bedienen, was allerdings für das Gelingen der Verständigung und für die Akzeptanz
meiner Anwesenheit durch die Gruppe zunächst unabdingbar war. So lernte ich erst
im Prozess des zunehmenden Verstehens der Bedeutungszusammenhänge, Normen
und Werte besser einzuschätzen, wann und wie es in meiner Rolle als teilnehmende
Beobachterin angebracht war, mich in Diskussionen und Auseinandersetzungen mit
einzubringen, ohne dabei individuelle oder gruppeninterne Maxime oder Gefühle zu
verletzen32.
Die größte Schwierigkeit stellte aber in diesem Kontext der unhinterfragte Respekt
und die Akzeptanz bestehender gruppeninterner Hierarchien und Machtgefüge für
mich dar. So war beispielsweise relativ klar definiert, wem gegenüber Kritik
geäußert werden durfte, wessen Aussagen öffentlich in Frage gestellt werden 32 Mit meiner Rolle als teilnehmende Beobachterin und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Anforderungen werde ich mich im folgenden Punkt kritisch auseinandersetzen.
131
konnten und wem diese Rechte zustanden. Auch hier geriet ich in den Konflikt,
angesichts meiner Position als Beobachterin in der Lebenswelt der Kinder und
Jugendlichen einerseits - zumindest augenscheinlich - diese Strukturen in der
alltäglichen Interaktion beachten zu müssen und anzuerkennen, da sie als Bestandteil
des Systems eine Ordnung darstellten. Andererseits gelang es mir nicht, mich mit
diesem Element zu identifizieren und es für mich zu akzeptieren.
Dieser Prozess der Re-, De- und Konstruktion eigener Vorstellungen erforderte, wie
ich hier versucht habe darzustellen, von meiner Seite aus eine permanente kritische
Auseinandersetzung mit meinem eigenen kulturellen Hintergrund und der Legitimität
der daraus erwachsenden Normen- und Wertesysteme, was in vielen Situationen mit
einem Gefühl der Angst, Abwehr und Überforderung einherging. Von Seiten der
Kinder und Jugendlichen wiederum erforderte die Akzeptanz meiner Person ein
hohes Maß an Geduld, Nachsicht und Toleranz gegenüber meinem anfänglichen
„Nichtverstehen“ ihrer Lebenswelt und dem oftmals daraus resultierenden, aus Sicht
der Kinder und Jugendlichen, unpassenden bzw. „abweichenden“ Verhalten.
Obwohl es nicht meine Absicht ist, zu polarisieren, ließen sich trotz dieser
dargestelllten und nicht zu verleugnenden Differenzen hinsichtlich der Normen,
Werte und individuellen Vorstellungen für mich in einiger Hinsicht auch
Gemeinsamkeiten entdecken, welche besonders bei meinem anfänglichen Zugang
zum Lebensraum der Kinder eine wesentliche Rolle spielten und auf die ich im
Folgenden noch näher eingehen werde.
2.2.2.3 Positionssuche und Beziehungswirklichkeiten – Das Dilemma von
Identifikation und Distanz
Obgleich sowohl mir als auch den Kindern und Jugendlichen zu jedem Zeitpunkt
bewusst war, dass ich mich als teilnehmende Beobachterin über einen begrenzten
Zeitraum in ihrer Lebenswelt aufhielt, war ich doch während dieser Zeit durch
meinen regelmäßigen Aufenthalt in ihrem Lebensraum ein Bestandteil ihres
alltäglichen Lebens. Im Verlauf meiner Beobachtungen veränderten sich, bedingt
durch den intensiven Kontakt zu den GirLi – Mitgliedern, in diesem Zeitraum auch
individuelle Beziehungsdefinitionen und –verständnisse, sowohl von meiner Seite als
auch von Seiten der einzelnen Gruppenmitglieder.
Zunächst sah ich mich, als Fremde in den Lebensraum der Kinder und Jugendlichen
eindringend, mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine Position innerhalb dieses
132
sozialen Feldes zu finden bzw. für mich zu definieren. Im Prozess der zunehmenden
Annährung an den Lebensraum, der sich damit einhergehend entwickelnden
Beziehungen und meines Zugewinns an Verständnis von Normen, Werten,
Beziehungsdefinitionen und Umgangsformen veränderten sich die von mir
eingenommenen Positionen schließlich häufig. Im Folgenden möchte ich daher
versuchen, die Veränderungen bezüglich meiner Beziehung zu den auf der Straße
lebenden Personen und der damit einhergehenden Positionssuche aus meiner
Perspektive als Selbst- und Fremdbeobachterin aufzuzeigen und zu reflektieren.
Im wesentlichen war dieser Prozess meiner teilnehmenden Beobachtung in seinen
unterschiedlichen Phasen für mich gekennzeichnet durch das von Lamnek treffend
formulierte Dilemma von Distanz und Identifikation (vgl. 2.1). Wie ich eingangs in
Punkt 2.2.2.1 bereits versucht habe zu verdeutlichen, kam ich in der Phase meines
Zugangs zum Lebensraum „Straße“ als Eindringling in die Lebenswelt der Kinder
und Jugendlichen mit einer mir völlig neuen Situation in Berührung, die für mich
anfangs in vieler Hinsicht befremdlich war. Doch nicht nur ich, sondern sicherlich
auch die auf der Straße lebenden Personen, mit denen ich in Kontakt trat, waren
aufgrund meiner Anwesenheit mit dem Phänomen „Fremdheit“ konfrontiert. In
dieser Phase des Herantastens an mein Beobachtungsfeld hatte ich das Gefühl, einen
Sonderstatus in der Gruppe einzunehmen, da sich zunächst bei meinen Besuchen an
der Straßenkreuzung und auf der Jalan Malioboro jegliche Aufmerksamkeit auf
mich konzentrierte. Diese Aufmerksamkeit mir gegenüber wurde mir jedoch auf
unterschiedliche Art und Weise zuteil. So reagierten einige Personen, insbesondere
die jüngeren Mitglieder, eher neugierig auf meine Anwesenheit, während mir von
Seiten anderer Personen große Skepsis entgegengebracht wurde. In dieser Phase
versuchte ich zunächst, mich akzeptierend, zurückhaltend und abwartend zu
verhalten, ihren Fragen an mich, welche sich größtenteils darauf bezogen, welche
Absichten ich damit verfolge, ihren Lebensraum zu erforschen, aber gleichzeitig
offen und ehrlich zu begegnen. Stellte doch dieser Zugang gleichzeitig eine
Testphase für mich dar, von deren Verlauf entscheidend abhängen sollte, welche
Rolle ich innerhalb der Gruppe einnehmen könnte und inwieweit meine Anwesenheit
akzeptiert würde. Als wesentliche Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses
erachtete ich eine akzeptierende und anerkennende Haltung meinerseits den Kindern
und Jugendlichen gegenüber und ein Vermeiden vorschneller Kritik, da
Bestrebungen, aktiv verändernd in ihren Lebensraum einzugreifen, von Seiten der
133
GirLi-Mitglieder explizit verurteilt und abgelehnt wurden. Im Übrigen hätte ich dies
in meiner Position allein aufgrund meiner anfänglichen Unkenntnis als Anmaßung
und Unmöglichkeit angesehen. So befand ich mich in dieser Anfangsphase zunächst
in der Rolle der Lernerin, die sowohl durch ihre reine Beobachtung als auch in
Interaktion mit den Kindern und Jugendlichen versuchte, sich deren Lebenswelt
anzunähren und gruppeninterne Regeln, Umgangsformen und
Bedeutungszusammenhänge zu erfassen. Dies war anfangs häufig mit einem Gefühl
der Überforderung verbunden, da ich tagtäglich mit einer Vielzahl mir neuer
Eindrücke konfrontiert wurde, die mir aus meiner Perspektive als Fremde erst einmal
unverständlich erschienen (vgl. 2.2.2.1). Auch empfand ich aufgrund dessen eine
Unsicherheit darüber, wie ich mich den Personen gegenüber verhalten sollte, um eine
möglichst hohe Authentizität bei meinen Beobachtungen im Feld zu gewährleisten
zu können und gleichzeitig nicht gegen bestehende Regeln zu verstoßen. So
versuchte ich zunächst, eine Basis zu finden, auf der eine Kontaktaufnahme am
einfachsten möglich war, wobei ich in erster Linie nach gemeinsamen Interessen und
Fähigkeiten suchte. Als eine wesentliche Kommunikationsebene kristallisierte sich
hierbei die Musik heraus. Durch das Erlernen der von den Kindern komponierten
Lieder und Texte und das gemeinsame Musizieren konnte ich mich zum Einen auf
einer Ebene mit ihnen treffen, die kein allzu großes Vertrauensverhältnis erforderte.
Zum Anderen sah ich dadurch eine Möglichkeit, mein Interesse an ihrem Leben zu
bekunden. Darüber hinaus erfuhr ich bereits durch die Textinhalte einige Dinge, die
für sie aus ihrer Perspektive in ihrer Lebenswelt eine zentrale Bedeutung hatten.
Nach einigen Wochen schienen meine regelmäßigen Besuche an den von mir
eingangs beschriebenen Aufenthaltsorten für die Kinder und Jugendlichen
zunehmend „normal“ zu werden, was mit einer Verringerung meines Sonderstatus
einherging. Sie gingen weitestgehend trotz meiner Anwesenheit unbeirrt ihren
Tätigkeiten nach und nahmen, ihrem individuelle Bedürfnis nach, einen
kommunikativen Austausch entsprechend Kontakt zu mir auf, so dass sich nicht
permanent die gesamte Gruppe auf mich konzentrierte. So kamen vermehrt
Gespräche mit einzelnen Gruppenmitgliedern zustande. Auch durch eine
Veränderung der Inhalte dieser Interaktionen merkte ich, dass ich mich zunehmend
zu einer Ansprechpartnerin der Kinder entwickelt hatte, die mir nun häufig von
aktuellen Erlebnissen in ihrem Alltag, sowie von ihren Wünschen, Vorhaben und
Sorgen berichteten, gleichzeitig aber auch etwas über meine Erlebnisse des Tages
134
erfahren wollten. Bei ihren Erzählungen musste ich zu dieser Zeit noch sehr oft
nachfragen, da mir einige Zusammenhänge, in denen sich diese Erlebnisse
ereigneten, zunächst nicht bekannt waren, die aber notwendig waren, um die
Bedeutung, die diese Ereignisse für die Kinder hatten, erst begreifen zu können. So
hatten mich beispielsweise Erzählungen über gewalttätige Auseinandersetzungen
innerhalb der Gruppe oder das aktuelle Miterleben solcher Ereignisse zu Anfang sehr
schockiert, während ich durch deren Einordnung in einen größeren Zusammenhang
aber zunehmend feststellte, dass sie im Lebensalltag der Kinder eine „normale
Nebenerscheinung“ waren, mit der sie gezwungen waren umzugehen. Während ich
also der Schilderung eines solchen Erlebnisses anfangs eine Aufforderung des
Kindes entnahm, in irgendeiner Weise aktiv werden, bzw. ihm helfen zu müssen, war
die Erzählung eines solchen Ereignisses für das Kind lediglich ein Bestandteil seines
Alltags, über den es mir berichtete und auf den es keine spezielle Reaktion von
meiner Seite zu erwarten schien. Eher schiene es irritiert zu sein, wenn es meinen
Reaktionen Entsetzen oder Unverständnis entnahm.
Nach wie vor bestand aber auch immer wieder großes Interesse der Kinder und
Jugendlichen daran, etwas über mein Herkunftsland, meine Sprache und mein Leben
dort zu erfahren. Ihre Fragen knüpften in den meisten Fällen an ihre aktuelle
Lebenssituation an, indem sie beispielsweise wissen wollten, ob es auch in
Deutschland auf der Straße lebende Kinder gäbe, wie die Polizei dort mit ihnen
umgehe und ob es in Deutschland solche pengamen (im Deutschen: Straßenmusiker),
wie sie es waren, an den Kreuzungen gäbe. Aus diesen Gesprächen heraus, die sich
nun vermehrt zu einem wechselseitigen Austausch entwickelt hatten, begann ich nun
langsam, das Leben der Kinder und deren Perspektiven ansatzweise verstehen zu
lernen, eine gewisse Ordnung innerhalb dieses sozialen Netzwerkes erkennen zu
können und mich selbst als Beobachterin in der Gruppe verorten zu können. Darüber
hinaus hatte sich auf der Basis des regelmäßigen Austausches eine zunehmende
Vertrautheit in der Beziehung zwischen mir und den Kindern und Jugendlichen
aufbauen können, obgleich mir zu dieser Zeit einige der jüngeren Gruppenmitglieder
in Gesprächen teilweise noch mit einer distanzierten Zurückhaltung begegneten, die
ich häufig fast als Gleichgültigkeit mir gegenüber empfand. Besonders in dieser
Phase meiner Beobachtungen hatte ich große Schwierigkeiten, meine Rolle, die ich
in ihrem Lebensraum einnahm, zu definieren, da sich in der Begegnung zwischen
mir und einzelnen Gruppenmitgliedern sehr große individuelle Unterschiede
135
bemerkbar machten und die Reaktionen auf meine Person zudem stark von situativen
Faktoren abhängig zu sein schienen. Während ich also in der Phase meines
Feldzugangs einen Sonderstatus innehatte, mit dem ich zwar auch gewisse
Schwierigkeiten hatte umzugehen, so sah ich mich trotz dem von mir beschriebenen
Gewinn an Vertrautheit auch häufiger damit konfrontiert, dass auf mein Erscheinen
an ihren Aufenthaltsorten keine verlässliche Reaktion der Kinder erfolgte, da diese
sich nun nicht mehr zwangsläufig verpflichtet fühlten, mir ihre gesamte
Aufmerksamkeit zu schenken. Diesen Wandel empfand ich zunächst als
Statusverlust, weil ich nun zum ersten Mal auch damit konfrontiert wurde, mit
scheinbarer Gleichgültigkeit behandelt zu werden, die ich zunächst als Ablehnung
interpretierte und auf ein Fehlverhalten von meiner Seite aus zurückführte.
Im weiteren Verlauf meiner Beobachtungen hatte ich den Eindruck, eine
zunehmende Akzeptanz innerhalb der Gruppe zu erfahren, was mit Sicherheit auch
damit zusammenhing, dass ich den anfangs von mir empfundenen Statusverlust
gleichzeitig in vieler Hinsicht als gewinnbringend ansehen konnte. So gelang es
durch meinen regelmäßigen und intensiven kommunikativen Austausch mit den
Kindern und Jugendlichen und einer gemeinsamen Beschäftigung mit deren Musik,
eine Kommunikations- und Vertrauensbasis aufzubauen, einen Einblick in ihren
Lebensalltag zu bekommen und mich aus dem Erleben ihres Alltags heraus
zunehmend in ihre individuellen Perspektiven hineinversetzen zu können.
Gleichzeitig war meine wachsende Integration in die Gruppe aber auch mit einer
Zunahme an Erwartungen, die sich implizit an mich stellten, verbunden. So schien es
mir in dieser Phase ungeheuer wichtig, meine Vertrauenswürdigkeit, meine
Zuverlässigkeit und mein vorhandenes Interesse an den Personen über meine
Forschungsabsichten hinaus unter Beweis zu stellen. Oftmals geriet ich hierbei in
den Konflikt, sowohl meiner Rolle innerhalb der Gruppe gerecht werden zu wollen,
was für mich mit einer starken Identifikation mit deren Belangen und einer starken
Einbindung in das Kollektiv einherging, als auch gleichzeitig ein Mindestmaß an
Distanz aufrecht zu erhalten, das ich in meiner Rolle als Beobachterin für das
Gelingen meines Forschungsauftrages für nötig erachtete. Da es mir in dieser Phase
schier unmöglich erschien, diese beiden gegenläufigen Prozesse der Identifikation
und Distanz miteinander zu vereinen und ein ausgewogenes Gleichgewicht
herzustellen, entschloss ich mich dazu, in erster Linie meiner Rolle als Teilnehmerin
an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen Priorität zu schenken. Zwar war
136
sowohl mir als auch den Kindern und Jugendlichen die Absicht meines Aufenthaltes
und mein „Anderssein“ allein aus der Tatsache heraus zu jedem Zeitpunkt bewusst,
dass ich mich aufgrund meiner Herkunft, meines gesellschaftlichen Status und
meines Aussehens von ihnen unterschied. Dennoch nahm ich trotz dieser Differenzen
für viele der Kinder und Jugendlichen die Rolle einer älteren Schwester ein, was in
ihrem lebensweltlichen Kontext nicht zwangsläufig verbunden ist mit einer realen
verwandtschaftlichen Beziehung. Hinsichtlich der Durchsetzung ihrer Belange und
der Organisation und Planung gemeinsamer Projekte des Netzwerkes bemühte ich
mich, keine Schlüsselrolle einzunehmen, da ich die Befürchtung hatte, sowohl die
Authentizität des sozialen Feldes als auch die Eigeninitiative der Kinder und
Jugendlichen zu gefährden bzw. zu hemmen. So brachte ich mich zwar sowohl in
künstlerische als auch organisatorische Aktivitäten mit ein, nahm dabei allerdings
stets eine Rolle ein, die für das Gelingen der Aktivitäten nicht ausschlaggebend und
notwendig war. Beispielsweise unterstützte ich die Kinder bei der Herstellung einer
Bühnendekoration für das von mir in Punkt 2.2.1.7 erwähnte Festival und nahm
sowohl an Musik- und Theaterproben als auch an organisatorischen Treffen teil, bei
denen ich mich jedoch weitestgehend, mitunter aufgrund meiner mangelnden
Kenntnis der Dinge, die bei der Organisation eines Festivals in diesem Kontext zu
beachten waren, zurückhielt. Hinsichtlich der Funktion des Informationsaustausches
war ich allerdings ein Bestandteil des Netzwerkes geworden, was sich dadurch
äußerte, dass ich, bedingt durch meine Anwesenheit, an mehreren Aufenthaltsorten
der Kinder und Jugendlichen, sowohl an der Straßenkreuzung als auch auf der Jalan
Malioboro nach der Situation und aktuellen Ereignissen an dem jeweils anderen Ort
gefragt wurde, Informationen weiterleitete und bei Nachfragen häufig Auskunft über
den derzeitigen Aufenthaltsort bestimmter Mitglieder geben konnte.
Das Ende meines Aufenthaltes in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen
betrachte ich als sehr kritisch, da meine Abreise sowohl für mich als auch für die
Kinder und Jugendlichen, für die ich mich zu einem Ansprechpartner entwickelt
hatte und zu denen ich eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatte, in erster
Linie einen Bindungsabbruch bedeutete. Kritisch sehe ich diese Phase insbesondere
vor dem biographischen Hintergrund der Kinder und Jugendlichen, da der Abbruch
von Beziehungen ein wesentliches Merkmal ihrer Biographie darstellt, mit dessen
Umgang bzw. Verarbeitung sie weitestgehend allein gelassen werden. Zwar war die
zeitliche Begrenztheit meines Aufenthaltes bereits im Vorfeld klar, wodurch
137
mitunter, insbesondere von Seiten der Kinder, auch nur ein begrenztes Maß an
Vertrautheit und Beziehungsaufbau zugelassen wurde. Dennoch spielte die
Beziehungsebene, die sich aufgrund der Intensität meiner teilnehmenden
Beobachtung entwickelte, in meinem Kontakt zu den auf der Straße lebenden
Kindern und Jugendlichen meines Erachtens eine entscheidende Rolle.
Daher stellte sich mir, sowohl in der eigentlichen Situation als auch rückblickend
während der Interpretation und Analyse meiner teilnehmenden Beobachtung, die
Frage, inwieweit ein solcher Vorgang zugunsten letztendlich wissenschaftlicher
Zwecke in diesem Kontext legitim und vertretbar ist. Zwar habe ich die mit mir in
Beziehung stehenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen stets als in ihrer
Lebenswelt höchst kompetente und handlungsfähige Subjekte mit ihren individuell
unterschiedlichen Biographien, Fähigkeiten, Interessen, Problemen und Wünschen
wahrgenommen, und zu keinem Zeitpunkt stellten sie für mich „Forschungsobjekte“
dar. Trotzdem bin ich mir des Machtgefälles bewusst, dass sich zwischen mir und
den in Yogyakarta auf der Straße lebenden Personen befindet. Bereits mein
Eindringen in ihre Lebenswelt stellt für mich rückblickend in gewisser Weise eine
Ausübung von Macht dar, da mir meine privilegierten ökonomischen
Lebensbedingungen bzw. mein gesellschaftlicher Status die Möglichkeit dazu erst
eröffneten. Umgekehrt wäre es von Seiten der Kinder, Jugendlichen und
Erwachsenen also nicht möglich, sich einen Einblick in meinen Lebensraum zu
verschaffen. Des Weiteren hätten die auf der Straße lebenden Personen aufgrund der
Tatsache, dass ihr Lebensraum zugleich ein öffentlicher Ort ist, keine offizielle
Handhabe gehabt, mich bei Missfallen meines Aufenthaltes dort ihres Lebensraumes
zu verweisen. Das heißt, die Entscheidung darüber, meine teilnehmende
Beobachtung in ihrer Lebenswelt durchführen zu können, lag trotz der dafür
notwendigen Akzeptanz durch die dort lebenden Personen, weitestgehend bei mir.
Doch nicht nur der Beobachtung an sich, sondern auch der hier von mir
vorgenommenen Interpretation und Analyse stehe ich kritisch gegenüber, weil ich in
dieser Arbeit „Wissen“ über eine Personengruppe produziere, an dessen Inhalt eben
diese Personengruppe lediglich während meiner aktuellen Beobachtung in Beziehung
zu mir partizipieren konnte. Somit möchte ich an dieser Stelle nochmals auf die
begrenzte Gültigkeit dieses „Wissens“ hinweisen. Als Ergebnis der Interpretation
meiner Beobachtungen ist zugleich Resultat dessen, was ich während dieser
Beobachtungen wahrgenommen, aber auch nicht wahrgenommen und ausgelassen
138
habe. Gleichzeitig fußt die Interpretation meiner Erkenntnisse auf meinem
subjektiven Verständnis dieser Lebenswelt und den Strukturen sowie
Bedeutungszusammenhängen, die sich mit diesem Verständnis für mich entwickelt
haben. Dabei war und bin ich mir bewusst darüber, dass ich mich trotz des von mir
angestrebten Perspektivenwechsels, einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit
Bestandteilen meiner eigenen Lebenswelt und einer ereignisoffenen Begegnung mit
dem mir anfangs „Fremden“ nie vollständig von Vorverständnissen, die mitunter auf
meinem kulturellen Hintergrund basieren, würde befreien können. Somit ist meine
eigentliche Beobachtung sowie die eigene Wahrnehmung und Interpretation immer
bereits durch meinen individuellen Sozialisationshintergrund, durch daraus
hervorgehende Vorverständnisse, Sichtweisen und nicht zuletzt durch eine
emotionale Beteiligung mitbestimmt. Sie ist nicht unabhängig von meinem eigenen
biographischen und kulturellen Kontext zu betrachten und stellt somit nur eine
Perspektive dar, neben der unzählige andere existieren.
2.2.2.5 Kriterien für pädagogische Handlungskonzepte
Im Folgenden möchte ich die von mir, auf der Basis meiner teilnehmenden
Beobachtung in Yogyakarta, als wichtig erachteten Kriterien darstellen, die in einem
pädagogischen Handlungskonzept innerhalb des Lebensraumes der mit mir in
Beziehung stehenden Personen berücksichtigt werden sollten. Im Vordergrund wird
dabei die Orientierung an lebensweltlichen Kontexten der Kinder und Jugendlichen
stehen, die ich in den vorausgehenden Teilen bereits versucht habe, ausführlich
darzustellen. Anlehnen werde ich mich bei meiner Entwicklung von Kriterien sowohl
an den im ersten Teil der Arbeit dargestellten Handlungskonzepte - der kritischen
Pädagogik nach Giroux und der Pädagogik der Unterdrückten nach Paulo Freire –
als das an aktuellen Konzepten der NGO HUMANA in Yogyakarta. Insbesondere
orientiere ich mich aber darüber hinaus an den aus meiner teilnehmenden
Beobachtung im Lebensraum „Straße“ hervorgehenden Erkenntnissen. Der Auswahl
der von mir als wichtig erachteten pädagogischen Handlungskriterien liegt die
Annahme zugrunde, dass die Berücksichtigung individueller lebensweltlicher
Kontexte der Zielgruppe unabdingbar ist, um Lernprozesse in Gang zu setzen und
Partizipationsmöglichkeiten zu entwickeln. In meiner folgenden Ausführung werde
ich versuchen, die Gründe, die die Basis dazu bilden, offen zu legen. Des weiteren
möchte ich näher auf die konkreten Anforderungen eingehen, die sich unter
Berücksichtigung lebensweltlicher Kontexte an den Pädagogen stellen.
139
Zunächst erfordert die Berücksichtigung lebensweltlicher Kontexte in der
pädagogischen Arbeit, das Arbeitsfeld, welches zugleich den Lebensraum der
Zielgruppe darstellt, in seiner Komplexität wahrzunehmen und einer Analyse zu
unterziehen. So gilt es zunächst, aktuelle Lebensbedingungen innerhalb des
Lebensraumes „Straße“ ansatzweise zu erfassen, wobei wesentliche Merkmale dieses
Lebensraumes wie Alltagsabläufe der Kinder und Jugendlichen, zentrale Probleme
im Lebensalltag sowie gesellschaftliche, ökonomische und politische Faktoren
berücksichtigt werden sollten, da diese sich im Prozess befindenden Faktoren die
Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, wie ich in meinen Darstellungen
ausführlich versucht habe deutlich zu machen, wesentlich mit beeinflussen
Des weiteren erachte ich es als notwendig, sich eingehender mit individuellen
biographischen Hintergründen der Kinder und Jugendlichen auseinander zu setzen
sowie individuelle Fähigkeiten, Kompetenzen und Handlungsstrategien
wahrzunehmen, da auch sie eine wichtige Ausgangsbasis eines lebensweltlich
orientierten Konzeptes darstellen.
Daraus ergibt sich für mich zunächst die wesentliche Anforderung an den
Pädagogen, sich zunächst akzeptierend auf sein Arbeitsfeld einzulassen, als
Beobachter eine möglichst weite Perspektive einzunehmen und sich in die Position
des Lerners zu begeben, der die Kinder und Jugendlichen innerhalb ihrer Lebenswelt
als „Experten“ bzw. „Mehrwisser“ anerkennt. Nur so ist es ihm meines Erachtens
möglich, ihre individuellen Fähigkeiten und Perspektiven, ihr Lernverhalten und ihre
in dem Kontext viablen und überlebenssichernden Handlungsstrategien ansatzweise
nachvollziehen und verstehen zu können denn nur so werden ihm gewisse
Alltagsabläufe der Kinder und Jugendlichen ersichtlich, auf die ein späteres
Handlungskonzept abgestimmt sein sollte. Auch ist eine akzeptierende und
wertschätzende Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber meiner Ansicht
nach eine grundlegende Voraussetzung, um eine Beziehung, die durch gegenseitige
Achtung und Vertrauen gekennzeichnet ist, aufzubauen, die eine grundlegende Basis
für die Entwicklung und Umsetzung eines Konzeptes schafft.
Im Folgenden möchte ich näher erläutern, was die Berücksichtigung lebensweltlicher
Kontexte im Lebensraum „Straße“ für die praktische Umsetzung pädagogischer
Handlungskonzepte bedeutet und welchen Anforderungen der Pädagoge in seinem
Arbeitsfeld gerecht werden muss.
140
Hinsichtlich der Erfassung eigentlicher Lebensbedingungen in diesem sozialen Feld
und auch im Hinblick auf mögliche pädagogische Konzepte erschien es mir während
meiner Beobachtungen sehr sinnvoll, zunächst einen weiten Blickwinkel
einzunehmen, um sowohl wesentliche Merkmale und Strukturen des Lebensalltags
der Kinder und Jugendlichen als auch zentrale Probleme in ihrem Lebensraum in
Beziehung zu größeren Kontexten erkennen und verstehen zu können. Meinen
Erkenntnissen zufolge ist die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen trotz ihrer
Heterogenität mitunter durch eine Vielzahl an gemeinsamen Merkmalen, die
zunächst unabhängig von individuell differenten Kontexten vorhanden waren
gekennzeichnet: Alle Kinder und Jugendliche, zu denen ich in Beziehung stand,
hatten sich von ihrer Herkunftsfamilie getrennt. Das heißt, bei keinem von ihnen
bestand ein regelmäßiger Kontakt zu Elternteilen oder Verwandten, so dass sie ohne
jegliche Einbindung in ein Familiensystem im traditionellen Sinne und ohne
erwachsene Erziehungspersonen lebten. Ihr gemeinsamer und ausschließlicher
Lebensraum ist die Straße, die somit in diesem Kontext zugleich ihr Schlafplatz,
Arbeitsplatz und Basis für kommunikativen Austausch, Erfahrungen, Lernprozesse
und Beziehungswirklichkeiten darstellt. Innerhalb ihres Lebensraumes sind alle der
mit mir in Kontakt stehenden dort lebenden Personen gleichermaßen mit den von mir
in Punkt 2.2.1.6 dargestellten zentralen Problemen - insbesondere der
Stigmatisierung, Diskriminierung und Marginalisierung sowie einem Leben ohne
bürgerrechtlichen Status - und den damit einhergehenden Konsequenzen
konfrontiert. Des weiteren sind all diese Kinder und Jugendlichen darauf angewiesen
zu arbeiten, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern.
Über diese gemeinsamen Merkmale hinaus spielt meines Erachtens hinsichtlich der
Entwicklung eines Handlungskonzeptes aber auch die Berücksichtigung vorhandener
individueller Handlungsstrategien, Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen sowie
die Anlehnung an Strukturen und Funktionen des sozialen Netzwerkes der Kinder
und Jugendlichen, auf die ich bereits in Punkt 2.2.1.7 ausführlicher eingegangen bin,
eine bedeutende Rolle.
Bei der Aufstellung bzw. Entwicklung von Kriterien gehe ich entsprechend einer
subjekt- und lebensweltorientierten Perspektive von der Grundannahme aus, dass
nicht die Zielgruppe an sich das eigentliche Problem darstellt, das es zu verändern
und an bestehende Systeme und Missstände anzupassen gilt. Vielmehr betrachte ich
die auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen als einen Teil ihrer Lebenswelt,
141
die wiederum in weitere Kontexte eingebunden ist, und an deren Gestaltung und
Veränderung sie innerhalb ihrer Möglichkeiten und Grenzen partizipieren. An dieser
Stelle möchte ich sogar noch weiter gehen, da ich auf der Basis meiner
vorangegangenen Darstellungen die in der gemeinsamen Einleitung aufgestellte
These, die Kinder und Jugendlichen stellten ein wesentliches Potential für
gesellschaftliche Veränderung dar, aufgreifen und begründen möchte. So befinden
sich diese Personen spätestens seit dem Zeitpunkt ihrer Loslösung von deren
Herkunftsfamilie auf einer fortwährenden Suche nach Veränderung, sowohl der
Veränderung ihrer eigenen Lebensmodelle als auch der Veränderung
gesellschaftlicher Normen, Werte und Missstände. Besonders in ihrem sich aktiv und
kritisch auseinandersetzenden Umgang mit ihrer eigenen Lebenssituation und mit
gesellschaftlichen und politischen Prozessen, versuchen sie aber auch fortwährend,
sich an den Rest der Bevölkerung zu richten, den sie, ohne pauschale Verurteilungen
und Schuldzuweisungen vorzunehmen, zur kritischen Reflexion anregen wollen, um
öffentlich auf gesamtgesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und
gleichzeitig eigenständig Alternativen zu entwickeln.
Ausgehend von dieser Grundannahme dienen die von mir als wesentlich erachteten
Kriterien, die ich im Folgenden ausführen werde, vielmehr der Entwicklung bzw.
Erweiterung von Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation, bei der ein
kritisches Bewusstsein gegenüber bestehenden Systemen und Missständen innerhalb
des lebensweltlichen Kontextes gefördert werden sollte. In vielerlei Hinsicht stimme
ich hier mit dem Konzept der befreienden Bildungsarbeit nach Paulo Freire und der
kritischen Pädagogik von Henry A. Giroux überein, da ich in dem von mir
dargestellten lebensweltlichen Kontext sowohl davon ausgehe, dass eine
Veränderung der Lebensbedingungen in erster Linie ein Bewusstsein der Betroffenen
über bestehende Missstände voraussetzt, als auch dass diese Veränderung lediglich
mit den Betroffenen ausgehend, von ihren Vorstellungen, und nicht für sie erfolgen
kann. Ebenfalls steht auch meines Erachtens hierbei die Förderung der
Eigeninitiative und die Erweiterung von Ausdrucksmöglichkeiten im Vordergrund.
Somit bin auch ich der Ansicht, dass die Einbeziehung der Zielgruppe in die
Entwicklung eines Konzeptes als ein wesentliches Kriterium unabdingbar ist.
Allerdings geht Freire bei seiner Arbeit zunächst davon aus, dass ein Bewusstsein
über Missstände, individuelle Rechte und Möglichkeiten der Veränderung erst mit
Hilfe des Pädagogen geschaffen werden muss (vgl. 1.2.1), während ich mich von
142
dieser Ansicht in Bezug auf die von mir beobachteten Personen in ihrer Lebenswelt
abgrenzen muss. Bereits die Tatsache, dass diese Kinder und Jugendlichen sich aus
bestehenden familiären Strukturen gelöst haben, stellt für mich einen aktiven Akt
der Befreiung dar, der sowohl ein Bewusstsein über ihre individuellen Rechte, die
Fähigkeit, die bestehenden Missstände zu problematisieren, als auch das Wissen um
die Möglichkeit der Veränderung voraussetzt. Des weiteren habe ich auch in ihrem
Lebensalltag, an dem ich über einen begrenzten Zeitraum teilnahm, ein ausgeprägtes
Bewusstsein über die eigene Situation und bestehende Missstände sowie vielfältige,
von den Kindern und Jugendlichen selbst geschaffene Möglichkeiten des Ausdrucks
und des Aufbegehrens gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und
Diskriminierung erkennen können. Die Stärkung und Schärfung dieses Bewusstseins
über die eigene Lebenssituation und individuelle Handlungsfähigkeit sowie die
Erweiterung bzw. Förderung eigener (kreativer) Ausdrucks- und
Partizipationsmöglichkeiten sehe ich dennoch als einen notwendigen Bestandteil
eines partizipativen pädagogischen Handlungskonzeptes an. Aufgrund der aus
meinen Beobachtungen im Lebensraum „Straße“ und in Beziehung zu den dort
lebenden Personen gewonnenen Eindrücke hätte ich mich in der Annahme, die
grundlegende Basis dazu erst schaffen zu müssen, allerdings grenzenlos überschätzt
und die Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen gleichzeitig
unterschätzt. So richtet sich mein Hauptaugenmerk unter Berücksichtigung der
kontextuellen Bedingungen in diesem Zusammenhang vielmehr auf die bereits
erkennbar vorhandenen Kompetenzen und Handlungsstrategien der Kinder und
Jugendlichen sowie auch auf bestehende Strukturen und Funktionen des sozialen
Netzwerkes, die meines Erachtens eine wichtige Ausgangsbasis darstellen, an denen
ein pädagogisches Konzept hinsichtlich seiner praktischen Umsetzung und seiner
Zielsetzungen ansetzen sollte und auf die es aufbauen kann. Die Orientierung an
vorhandenen Kompetenzen und erkennbaren Strukturen und die Funktionen des
sozialen Netzwerkes setzt allerdings eine hohe Flexibilität, eine große
Ereignisoffenheit und insbesondere die Anerkennung von Vorstellungen der Kinder
und Jugendlichen voraus. Somit stellt sich bei der praktischen Umsetzung dieser
Kriterien aber gleichzeitig die Anforderung an den Pädagogen, die in diesem Kontext
von ihm eingenommene Rolle sowie eigene Vorstellungen und Vorverständnisse
kritisch zu reflektieren und sich gegebenenfalls in seiner Arbeit davon zu
distanzieren. Auch hinsichtlich dieser Aufgabenstellung stimme ich mit Giroux und
143
Freire überein, die in ihren Konzeptionen insbesondere den im Bildungsprozess
notwendigen Dialog betonen, in den allerdings immer auch Vorstellungen, Ziele und
Wünsche des Pädagogen mit einfließen. Aufgrund des enormen Machtgefälles, das
in dem von mir beschriebenen Kontext zwischen Lernern und Pädagogen besteht, ist
es insbesondere in einem solchen Dialog wesentlich, die eigene Position sowie
eigene Vorstellungen und Zielsetzungen kritisch zu reflektieren und diese offen zu
legen statt sie zu verleugnen (vgl. 1.2). So habe ich beispielsweise in Punkt 2.2.2.2
die Frage aufgeworfen, inwiefern in diesem spezifischen lebensweltlichen Kontext
der Kinder und Jugendlichen die Notwendigkeit einer erwachsenen
Erziehungsperson gegeben sein muss und legitim ist, die sich innerhalb dieses
Lebensraumes in der Position versteht, wesentliche unterstützende Funktionen
bezüglich der Bewältigung, Gestaltung und Planung des Lebensalltags der Kinder
und Jugendlichen zu übernehmen. Meines Erachtens basiert diese Rolle und
Funktion des Erwachsenen auf einem diesbezüglich nicht viablen Kindheitsbild und
würde eher eine Begrenzung der vorhandenen Eigenverantwortlichkeit und
Eigeninitiative der Kinder und Jugendlichen mit sich bringen, als dass sie
Partizipationsmöglichkeiten eröffnen würde, da sie die Nutzung bereits vorhandener
Kompetenzen unterbinden bzw. einschränken würde. Daher halte ich es vor dem
Hintergrund der spezifischen Lebensbedingungen dieser Personengruppe für
bedeutend, dass die erwachsene Bezugsperson ihnen die selbst geforderte
Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit zugesteht und sie als
eigenverantwortliche und in ihrer Lebenswelt kompetente Subjekte, die darauf
angewiesen und fähig sind, ihren Alltag zu gestalten und zu bewältigen wahrnimmt
und anerkennt. Insofern unterschätzt auch das in den Industriestaaten überwiegend
vorherrschende Kindheitsbild, in dem Kindheit als Schonraum verstanden wird (vgl.
dazu auch Reich, „Kindheit als Konstrukt“33), in diesem Kontext zum Einen die
entwickelten Fähigkeiten der Kinder, ihr Leben eigenständig zu bewältigen und zu
gestalten, zum Anderen weist dieses Bild nur wenige Parallelen zur eigentlichen
Lebenswirklichkeit dieser Kinder und Jugendlichen auf und entbehrt somit in diesem
Zusammenhang jeglicher Grundlage. Darüber hinaus gehe ich auf der Basis meiner
Beobachtungen davon aus, dass die zu mir in Beziehung stehenden der Kinder und
Jugendlichen, die die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Lebensgestaltung
33 Reich, K.: „Kindheit als Konstrukt“. Im Internet zugänglich unter: http://www.uni-koeln.de/ew-fak/konstrukt/texte/download/kindheit.pdf
144
mir gegenüber als einen zentralen Wert des Lebens auf der Straße hervorhoben, einer
massiven Form des Eingreifens in ihren Alltag eher ablehnend gegenüberstünden
und als eine Beschneidung ihrer Rechte empfinden würden.
Vielmehr erachte ich es für wichtig, dass sich die erwachsene Bezugsperson,
basierend auf einem Vertrauen in diese Eigenverantwortlichkeit und individueller
Kompetenzen, in der Funktion eines zuverlässigen und parteiischen
Ansprechpartners versteht, die bei Handlungsbedarf in gesamtgesellschaftlichen,
politischen oder anderen institutionellen Kontexten vermittelnde, beratende und
unterstützende Funktionen hinsichtlich der Durchsetzung der Belange seiner
Zielgruppe übernimmt. Dies setzt allerdings genaue Kenntnisse über die aktuelle
Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen sowie über komplexe gesellschaftliche,
politische und juristische Kontexte voraus. Darüber hinaus erfordert es eine Vielfalt
an pädagogischen Handlungskompetenzen, um dieser Funktion gerecht zu werden.
Ebenfalls ist die kontinuierliche Kommunikation und intensive Auseinandersetzung
mit den Kindern und Jugendlichen im Kontext ihrer Lebenswelt - meines Erachtens
auch eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens -
notwendig, um sowohl aktuelle Veränderungsprozesse innerhalb deren Lebensraum
wahrzunehmen als auch, um individuelle Anliegen, Vorstellungen und Ideen
erfahren und nachvollziehen zu können. Insbesondere vor den individuellen
biographischen Hintergründen der Kinder und Jugendlichen und deren aktueller
Lebensbedingungen, die mitunter wesentlich durch gewaltsame Verletzungen ihrer
Rechte, durch Bindungsabbrüche, gesellschaftliche Ausgrenzung und
Diskriminierung gekennzeichnet sind, sehe ich eine akzeptierende und erstnehmende
– jedoch nicht unkritische – achtende Haltung des Pädagogen in Interaktion mit
seiner Zielgruppe als ein grundlegendes Kriterium der pädagogischen Arbeit mit
ebendiesen Kindern und Jugendlichen an.
Über eine rein vermittelnde und beratende Funktion hinaus sollte sich ein
pädagogisches Handlungskonzept in diesem Lebensraum ebenso intensiv auf die
Förderung und Entwicklung von Kompetenzen, Fertigkeiten und Ausdrucksformen
konzentrieren, um eine Erweiterung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten
der Kinder und Jugendlichen zu erzielen. Deshalb halte ich eine Orientierung an
vorhandenen Ideen, Vorstellungen, Interessen und Kompetenzen der Zielgruppe
sowie an deren aktuellen Lebensbedingungen für sinnvoll, da sie hinsichtlich der
Lerninhalte sowie auch deren Vermittlung als grundlegende Basis genutzt werden
145
kann, um den Ansatz eines Bildungskonzeptes zu entwickeln. Gleichzeitig ist meiner
Ansicht nach nur durch eine Anknüpfung an Faktoren lebensweltlicher Kontexte ein
partizipativer Bildungsprozess möglich, da der Zielgruppe einerseits ein Nutzen der
Lerninhalte durch eine Verknüpfung mit ihren aktuellen Lebensbedingungen
erkennbar werden kann und sie andererseits die Möglichkeit haben, sich durch die
Orientierung an vorhandenen Potentialen bereits im Vorfeld als produktive Subjekte
zu erfahren. Eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Lerninhalte und deren
Vermittlung spielt darüber hinaus die Verknüpfung mit der Möglichkeit, gleichzeitig
ihren Bedarf an grundlegenden materiellen Gütern sichern zu können und innerhalb
dieses Lebensraumes berufliche Perspektiven entwickeln zu können. Hierbei gehe
ich von der Annahme aus, dass die Kinder und Jugendlichen arbeiten müssen, da in
ihrem Lebensraum keine institutionelle Einrichtung existiert, die eine ökonomische
Sicherung ihres Lebensunterhaltes gewährleistet. Daher kann es aufgrund der
Ermangelung an Alternativen in diesem Kontext nicht um die grundsätzliche Frage
gehen, inwiefern Kinderarbeit an sich vertretbar ist. Vielmehr sollte sich ein Konzept
mit der Entwicklung von Möglichkeiten zur Verbesserung der Lern- und
Arbeitsbedingungen auseinandersetzen, bzw. Arbeitsprozesse in Gang setzen, die
gleichzeitig Lernprozesse fördert. Als ein Beispiel möchte ich an dieser Stelle die
Herstellung und den Vertrieb des von HUMANA zusammen mit den GirLi-
Mitgliedern entwickelte Straßenmagazin JeJal anführen. Meines Erachtens wurden
bei diesem Projekt in vielerlei Hinsicht wesentliche Kriterien berücksichtigt: Zum
Einen wurden die Kinder und Jugendlichen in die Entwicklung dieses Konzeptes
insofern mit einbezogen, als dass ihre Ideen und Vorstellungen als wesentliche
Gestaltungsgrundlage dienten. Zugleich hatten sie durch die gemeinsame kreative
Gestaltung des Magazins die Möglichkeit, sich als schöpferische und produktive
Subjekte zu erfahren. In diesem Schaffensprozess hatten sie sowohl die Chance,
grundlegende Fertigkeiten - in erster Linie die des Schreibens und Lesens – zu
erwerben und somit ihnen bislang verschlossen gebliebene kreative
Ausdrucksformen zu entdecken. Der eigenständige Vertrieb des Magazins erfüllte
wiederum zum Einen die Funktion der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes,
zum Anderen gab er ihnen die Möglichkeit, sich aus ihrem Lebensraum heraus der
Gesellschaft mitzuteilen und diese für eine differenziertere Sichtweise des
Lebensraumes „Straße“ und der dort lebenden Personen zu sensibilisieren. Der
Erwerb und die Förderung des kreativen Ausdrucks in enger Verbindung mit ihrer
146
Lebenswelt ließ die Kinder und Jugendlichen somit einen Nutzen des Lesens und
Schreibens erkennen und ermöglichte ihnen durch das Verfassen von Gedichten und
Erzählungen, ihre Lebensbedingungen differenziert zu betrachten und zu
problematisieren. Darüber hinaus erwarben sie Fertigkeiten, die ihnen über dieses
spezifische Projekt hinaus als notwendige Grundlagen dienten, auf denen sie
aufbauen konnten.
Hinsichtlich der Förderung kreativer Ausdrucksformen - insbesondere im musischen,
aber auch in anderen künstlerischen und handwerklichen Bereichen - nahm meiner
Ansicht nach allerdings auch das soziale Netzwerk der Kinder und Jugendlichen
insofern eine wesentliche Rolle ein, als dass es den Kindern und Jugendlichen die
Möglichkeit gab, Interessen zu entwickeln und Fertigkeiten voneinander zu erlernen
und weiter zu vermitteln. Deshalb ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit
der Institutionalisierung des Lernens in Form von Verschulung kritisch zu
betrachten. In dem von mir beobachteten Kontext waren Lernprozesse als
Bestandteil des Alltags der Kinder und Jugendlichen klar erkennbar, die wesentlich
durch individuelles Entdecken und Erfahren des Lerngegenstandes sowie einer
aktiven Auseinandersetzung mit diesem gekennzeichnet waren. Auch hier sehe ich
einen Ansatzpunkt für pädagogische Handlungskonzepte, einerseits durch materielle
Unterstützung, andererseits aber auch durch kompetente Begleitung dieser
Lernprozesse, um Möglichkeiten der Förderung zu erweitern, bzw. zu verbessern und
auszubauen. Wie bereits dargestellt übernahm aber auch das soziale Netzwerk der
Kinder und Jugendlichen über den Erwerb kreativer Fertigkeiten und einer
bedeutenden identitätsstiftenden und überlebenssichernden Funktion hinaus aus
meiner Sicht wesentliche Lern- und Bildungsfunktionen, durch die eine Erweiterung
von Partizipationsmöglichkeiten erzielt werden konnte. So waren für mich
insbesondere in der von mir dargestellten Planungs- und Organisationsphase des
Festivals der Kinder und Jugendlichen vielfältige (Lern)funktionen erkennbar:
Zunächst setzte das Gelingen dieses Projektes die eigenständige Entwicklung von
Ideen und Vorstellungen innerhalb der Gruppe voraus. Zugleich gab das Projekt
ihnen die Möglichkeit, durch die Planung und Organisation eine längerfristige
Perspektive zu entwickeln, auf die es sich lohnte, hinzuarbeiten. Ein Bestandteil
dessen war das Sparen der gesammelten Gelder, für das in meinen Augen erst ein
erstrebenswertes Ziel bzw. eine Perspektive erkennbar sein musste, mit der sich in
diesem Kontext ein jedes Gruppenmitglied identifizieren konnte. Durch die
147
gemeinsame Planung und die kollektive Verantwortung für eine gemeinsam initiierte
Sache wurden zugleich soziale Kompetenzen gefördert, da Absprachen getroffen und
Kompromisse gefunden werden mussten. Des Weiteren erforderte die Präsentation
des gemeinsamen Konzeptes im Vorfeld das Sammeln von Spenden und das Erbitten
von Genehmigungen, die für die Durchführung notwendig waren, darüber hinaus
eine enge Kooperation der Kinder und Jugendlichen mit ansässigen Institutionen,
was sowohl eine wachsende Offenheit des sozialen Netzwerkes begünstigte als auch
einen Versuch darstellte, andere Bevölkerungsgruppen auf die eigene Situation und
die ihr eigenen Potentiale aufmerksam zu machen.
Jedoch sollten innerhalb eines Handlungskonzeptes auch zentral vorherrschende
interne Probleme dieses Netzwerkes nicht vernachlässigt werden. Eines davon stellt
für mich der bereits erwähnte regelmäßige Substanzenmissbrauch der Kinder dar,
dem die pädagogische Arbeit in diesem Feld meiner Ansicht nach am ehesten durch
die Erweiterung von Möglichkeiten der Verarbeitung und des Umgangs mit
vorausgegangenen Traumatisierungen und erlebter Gewalt und Diskriminierung
entgegenwirken kann. Diesbezüglich sind meines Erachtens fachlich und sozial
kompetente Personen notwendig, die den Kindern und Jugendlichen als vertraute und
zuverlässige Ansprechpartner und Bezugspersonen zur Verfügung stehen, die aber
darüber hinaus auch eine aktive Auseinandersetzung der Kinder mit der Thematik
des Substanzkonsums in Gang setzen und langfristig begleiten können. Dabei sollten
sich diese Personen allerdings nicht als Besserwisser verstehen, die eine belehrende
Funktion einnehmen. Vielmehr halte ich es für das Gelingen einer kommunikativen
Verständigung über diese Problematik für grundlegend, die Kinder als kompetente
Kommunikationspartner, die sich der möglichen Folgen ihres Konsums durchaus
bewusst sind, ernst zu nehmen und weder die Personen an sich, noch ihren Konsum
pauschal zu verurteilen.
Insgesamt bin ich der Ansicht, dass Orientierung an den lebensweltlichen Kontexten
eine fruchtbare Ausgangsbasis für die mögliche Umsetzung pädagogischer
Handlungskonzepte darstellt. Dies halte ich sowohl hinsichtlich der Erreichbarkeit
der Zielgruppe für notwendig als auch in Bezug auf die Kontextviabilität der Lern-
und Bildungsinhalte und deren Vermittlung, die eine Grundvoraussetzung für das
Erkennen und Erfahren von Sinnzusammenhängen und Nutzen im Lebensraum der
Kinder und Jugendlichen darstellt.
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Darüber hinaus erachte ich das Zugeständnis des Rechts der Kinder und
Jugendlichen, auf der Straße zu leben, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer
Motivation, sich durch ihre Loslösung von ihren Familien aus gewaltgeprägten
Strukturen zu befreien, als ein grundlegendes Kriterium. Ein pädagogisches
Handlungskonzept sollte dementsprechend langfristig darauf abzielen, gemeinsam
mit der Zielgruppe und im vermittelnden Dialog mit Institutionen und anderen
sozialen Netzwerken gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen bzw.
zu erweitern, um somit die individuelle Entwicklung von Perspektiven innerhalb des
Lebensraumes „Straße“ zu ermöglichen. Damit einhergehend sollte ein solches
Konzept aber auch Prozesse der Entwicklung von alternativen Möglichkeiten der
Lebensgestaltung unterstützend begleiten, in denen das Leben der Kinder und
Jugendlichen auf der Straße zwar als eine Form der Lebensgestaltung vollwertig
anerkannt und geachtet wird, gleichzeitig aber keine unausweichliche, durch
strukturelle Gewalt und vielfältige Dimensionen der Armut bestimmte
Notwendigkeit mehr darstellt.
Abschließend sollte sich der in diesem Kontext tätige Pädagoge aber, wie bereits
angesprochen, über seine eigenen Vorstellungen und die eigene Machtposition, die
diese Prozesse unausweichlich mit beeinflussen, bewusst werden und diese
kontinuierlich einer kritischen Reflexion unterziehen. So mögen ihm individuelle
Ideen, Vorstellungen oder Wege zur Erreichung angestrebter Ziele der Kinder und
Jugendlichen mitunter aus seiner Perspektive als Beobachter unsinnig erscheinen.
Bei genauem Hinschauen, dem Wechsel der eigenen Perspektive und dem Versuch,
sich in individuelle Perspektiven der Kinder und Jugendlichen in Beziehung zu ihrem
Lebensraum hineinzuversetzen, kann es ihm allerdings durchaus gelingen, ihr
Handeln ansatzweise nachzuvollziehen und als ernstzunehmende Perspektive
anzuerkennen.
In diesem Kontext halte ich es für sehr wichtig, auch Differenzen hinsichtlich
individueller Vorstellungen und Zielsetzungen offen zu legen und zu akzeptieren. So
ist eine kritische und fortwährende Reflexion des Pädagogen bezüglich seiner
Position in der Begleitung von Bildungsprozessen meines Erachtens von großer
Bedeutung, um zu vermeiden, eigene Vorstellungen zum absoluten Maßstab der
Dinge zu machen, wodurch er den Prozessverlauf wesentlich bestimmen und lenken
würde. Gleichzeitig sollte er versuchen, sich eigene Wünsche und Projektionen
bewusst zu machen, um diese nicht unreflektiert auf seine Zielgruppe zu übertragen.
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Meines Erachtens ist dies insbesondere im interkulturellen Kontext von großer
Wichtigkeit, da die Übertragung kultureller Normen und Werte und die
Beanspruchung deren universeller Gültigkeit in vielfacher Hinsicht an der
Ereignishaftigkeit individueller lebensweltlicher Kontexten vorbeizielen würde. Ein
Beleg dafür ist das Scheitern etlicher „Entwicklungshilfe“-Projekte, denen die
Übertragung „westlicher“ Werte und Maßstäbe zugrunde lag.