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12. Mai 2006 IDS Mannheim 1
Pragmatik und Fossilisierung
Reinhard Blutnerdepartment of philosophy UvA2006
1 EinleitungFossilien sind die mineralisierten Überreste von Tieren oder Pflanzen oder hinerlassene Spuren wie Fußabdrücke. Fossilien werden unterteilt in:Körperfossilien: Als solche bezeichnet man vollständig erhaltene Körper von Lebewesen, sowie auch deren teilweise erhaltenden Hartteile/Weichteile. Steinkerne: Diese entstehen, wenn Lebewesen einen Hohlraum im Sediment hinterlassen, der später ganz oder teilweise mit Sediment verfüllt wird. Spurenfossilien: Spurenfossilien enthalten alle Hinweise auf Leben, die nicht das Lebewesen selbst betreffen. Beispielsweise Fußabdrücke, Bewegungs- und Grabspuren, Ernährungsspuren (Fraß oder Kot), Fortpflanzungs- und Wohnspuren (Eier, Nest). [wikipedia.org/fossilien]
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Fossilisierung in L2 Warum erreicht kaum ein Erwachsener beim Lernen
einer Zweitsprache eine Sprachbeherrschung, die der seiner Muttersprache ähnelt?
Antwort: Fossilisierung Fossilisierung ist allgemein definiert als Tendenz zum
vorzeitigen und dauerhaften Abbruch der grammatikalischen Entwicklung trotz (a) kontinuierliches Angebot an L2-Äußerungen, (b) adäquater Lernmotivation, (c) hinreichend Gelegenheit die L2 unter realen Bedingungen zu gebrauchen.
“Der Mann verlor die Melone und zerbrach” (cf. La Polla 1997)Dyirbal-Hörer (Konjunktionsreduktion wie im dt. nicht vorhanden)
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Fossilisierung und Pragmatik
Sprachen unterscheiden sich darin, welche Aspekte der Interpretation durch die Grammatik bestimmt sind und welche der Pragmatik überlassen bleiben
Sprachwandel besteht oft in der einseitigen Verschiebung dieser Grenze: Implikaturen frieren ein/fossilisieren.
‘Invited Inferences’ (Geis & Zwicky 1971). Mechanismus zur Konventionalisierung von Implikaturen (s. a. Traugott)
Levinson (2000) und Mattausch (2004) im Zusammenhang mit der Entwicklung von Bindungsprinzipien
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Fossilisierung und OTFossilisierung in L2
(DuBravac 2001)
L1 L2
c1
c1′
c2
c2′
… …cn cn
′
Fossilisierung in der Pragmatik
L L′
c1 c1′
c2 c2′
… …cn cn′
2 Pragmatik und Polysemie
Lexikalische Pragmatik Phänomene Semantik und Pragmatik
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Lexikalische Pragmatik Lexikalische Pragmatik: Beruht auf der Beobachtung,
dass die im Gebrauch kommunizierten Begriffe sich oft von den durch Wörter kodierten Begriffen unterscheiden. Untersuchungsgegen-stand sind die Prozesse, welche die sprachlich spezifizierten Wort-bedeutungen bei ihrem Gebrauch modifizieren (Interpretation).
Lexikalische Semantik: Beschreibung der sprachlich kodierten Verbindung zwischen Wörtern und Begriffe.
Für verschiedene Zugänge s. Grice (1967; 1989); Ducrot (1972; 1973; 1980; 1984); Searle (1979; 1993); Lakoff & Johnson (1980); Sperber & Wilson (1986; 1998); Cruse (1986); Hobbs & Martin (1987); Lakoff (1987); Merlini Barbaresi (1988); Lahav (1989); Sweetser (1990); Horn (1992; 2000); Aitchison (1994); Bach (1994; 2001); Gibbs (1994); Copestake & Briscoe (1995); Franks (1995); Recanati (1995; forthcoming); Rips (1995); Bertuccelli Papi (1997); Carston (1997; 1999; 2002); Noveck, Bianco & Castry (2001); Blutner (1998; 2002); Lascarides & Copestake (1998); Ruiz de Mendoza(1998); Lasersohn (1999); Fauconnier & Turner (2002); Wilson & Sperber (2002; 2004); Merlini Barbaresi (2003)." (Deirdre Wilson: Relevance and Lexical Pragmatics, p. 1)
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Phänomene Bedeutungseingrenzung
– Alle Manager trinken– “Please smoke inside”
Approximative Bedeutungsausweitung – Dieser Laptop kostet 1000 €– “Der Mann rennt um das Haus (Barriere, Ecke)” *
Metaphorische Bedeutungsausweitung– Ich sehe den Baum– Ich sehe was Du meinst – Ich schmecke/rieche was Du meinst **
* Zwarts 2003** Sweetser 1990
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Semantik und Pragmatik
Sprachliche (semantische) Unterspezifizierung
Pragmatischer Interpretationsprozess– konversationale Implikaturen– optimalitätstheoretische Behandlung
Woher kommen die Beschränkungen?– semantische Beschränkungen sind
(teilweise) pragmatisch motiviert– Pragmatik beeinflusst das semantische
System (Fossilisierung von Implikaturen)
3 Pragmatik in OT
Konversationelle Implikaturen
Bidirectionale OT Ein Problem für Neo-
Grice Bidirektionale
Optimierung und online Sprachverarbeitung
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Konversationale Implikaturen
I-principle (termed R by Horn)
Q-principle
Quantity 2, Relation Say no more than you must
(Horn 1984) Read as much into an utterance
as is consistent with what you know about the world
[Levinson 1983: 146f.]
Quantity 1 Say as much as you can
(Horn 1984). Do not provide a statement
that is informationally weaker than your knowledge of the world allows,
[Levinson 1987: 401]
Conditional perfection, neg-raising, bridging
Seeks to select the most harmonic interpretation
Interpretive Optimization
Scalar implicatures Can be considered as a
blocking mechanismExpressive Optimization
(given Q)
(given I)
(bearing the Q-principle in mind).
unless providing a stronger statement would contravene the I-principle
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Unidirektionale OT
Contraint-Hierarchy:C1 >> C2 >> C3 Evaluator
Output
Input
Generator
1 2 3 4 5Kandidaten
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Bidirektionale OT Betrachte zwei Richtungen der Optimierung
– Hörer-orientiert: Expressive Optimierung– Sprecher-orientiert: Interpretative Optimierung
Gebrauche die gleiche Menge der Constraints und die gleiche Rangordnung für beide Perspektiven
Somit bewertet der Evaluator Paare von Repräsen-tationen (z.B. Form-Bedeutungs-Paare)
Starke Bidirektion: ein Form-Bedeutungs-Paar heisst optimal falls es Hörer- und Sprecher-optimal ist
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Ein Problem für Neo-Grice Skalare Implikaturen sind online und automatisiert
verfügbar. (Tanenhaus, Noveck, Breheny,…) Inkrementalität: Natürlichsprachliche Äußerungen
werden inkrementell verarbeitet (z.B. Pluralinterpretation in Sprachen mit Dual)
Bidirektionale Optimierung nur offline und nicht inkrementell möglich.
Fossilisierung formt das Kenntnissystem so um, dass die Lösungen der globalen Optimierung online und verfügbar sind und inkrementelle Verarbeitung unterstützen.
Das geschieht dadurch, dass ein bidirektionales System in ein äquivalentes unidirektionale System transformiert wird
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Einige und Alle Experimentelle Pragmatik: Noveck u.a.
– Einige Elefanten leben im Zoo (passend) ja 90% 99%– Alle Elefanten leben im Zoo (unpassend) nein 99% 99% – Einige Elefanten haben Rüssel (unpassend) ja 85% 41%– Alle Elefanten habe Rüssel (passend) ja 99% 96%– Einige Elefanten haben Flügel (absurd) nein 99% 98%– Alle Elefanten haben Flügel (absurd) nein 99% 99%
Warum denken Kinder logischer als Erwachsene?
Zwei mögliche Antworten– Bidirektionales Denken noch nicht entwickelt– Fossilisierung noch nicht fortgeschritten
10 -11
Erwachsene
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Antwort 1: Erwachen von Bidirektion
Lexikalische Constraint A: alle Mengeninklusion Referentielle Ökonomie: bevorzugt alle gegenüber
einige
Bidirektionale Lösungen
einigealle
einige
alle
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Antwort 2: Fossilisierung Lexicalische Constraint A: alle Mengeninklusion Referentielle Ökonomie: bevorzugt alle gegenüber
einige Potentielle lexikalische Constraint B: einige
Mengenkonsistenz; ….einigealle
einige
alle
Sprecher all
e
Hörernichts geschieht
Constraint B verstärkt
Sprecher eini
ge
Hörernichts geschieht
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Erklärungsansätze
Functional FormalGenetische Evolution
Evolutionäre Psychologie
(Pinker)
Minimalistisches Programm (Chomsky)
Kulturelle Evolution
Rekrutierungstheorie (Steels)
Iteriertes Lernen
(Kirby, Hurford, Jäger)
4 Fossilization in lexical pragmatics: Om
and rond Jost Zwarts: round Die Hypothese der stärksten
Bedeutung om and rond im
Niederländischen Fossilisierung
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Joost Zwarts: round (Englisch)
a. The postman ran round the block (in a circle)b. The burglar drove round the barrier (to the opposite side)c. The steeplechaser ran round the corner (to the other side)d. The captain sailed round the lakee. The tourist drove round the city centre
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Die Hypothese der stärksten Bedeutung
Dalrymple, M., M. Kanazawa, S. Mchombo & S. Peters (1994). What do reciprocals mean? Proceedings of SALT 4.
HSB: Wähle die logisch stärkste Interpretation, die bekannten Eigenschaften der assoziierten (relationalen) Konzepte nicht widersprechen– Die Mädchen kennen einander ≃ Jedes Mädchen
kennt jedes (andere) Mädchen.– Die Wagen hängen an einander ≄ Jeder Wagen hängt
an jedem (anderen) Wagen. Zwarts verwendet diese Idee für die
Beschreibung der Interpretationen von round.
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Die Erzeugung der Kandidatenmenge Kernbedeutung von round entspricht dem Konzept eines
Kreises Damit verbunden ist ein System von möglichen Bedeutunsg-
abschwächungen (diese sind partiell geordnet)
vector space semantics– constancy: all vectors have the same length– completeness: there is a vector pointing in every direction– loop: Starting point and end point of the path are identical– inversion: at least a half circle– orthogonality: at least a quarter-circle– detour: any path that does not describe a straight line
round
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Anwendung von OT
round the door
FIT STÄRKE
completeness
*
inversion *
orthogonality
**
detour ***
Constraints– FIT: Interpretationen sollten dem
konzeptuel-len/linguistischen Kontext nicht widersprechen
– STÄRKE: logisch stärkere Interpretationen sind besser als schwächere.
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Formvariation im Niederländischen: om, rond, rondom
a. They sat round the television
b. A man put his head round the door
c. The drove round the obstacle
d. the area round the little town
Ze zaten rond (?om) de televisieEen man stak zijn hoofd om (?rond, ?rondom) de deurDe auto reed om (?rond, ?rondom) het obstakel heenhet gebied rondom (?om) het stadje
Umweg ---------------------------------------------------------- Kreisom … Verstärkung … Abschwächung …
rond/rondom
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Predikativer Gebrauch von om und rond
Zwart’s (2005) finding using minimal pairs:– rond hat Interpretation m rond hat auch jede stärkere
Interpretation– om hat Interpretation m om hat auch jede schwächere
Interpretation– Es gibt eine gewisse Überlappung zwischen om and rondrond
om
Ein Rätsel:– die markierte Form (rond) realisiert die
stärkere (= bevorzugte) Interpretation– die unmarkierte Form (om) realisiert die
schwächere Interpretation– Dies widerspricht dem Prinzip der
Ikonizität (Bidirektion)
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Anwendung von Fossilisierung Stärke: präferiert Kreis gegenüber Umweg Lexical constraint A: rond Kreis Markiertheitskonvention: präferiert om gegenüber
rond Potential lexical constraint B: om Umweg; ….
omrond
om
rond
Sprecher o
m
Hörernichts geschiehtConstraint B verstärkt
Sprecher om
Hörer
4 Schlussfolgerungen Fossilisierung erklärt wie konversationale
Implikaturen konventionalisiert werden können- ‘Grammaticalization’ = the harnessing of pragmatics by a grammar (Haiman 1985)
In Rahmen der bidirektionalen OT kann der Mechanismus der Fossilizierung als kultureller Lernmechanismus gefasst werden.
Vereinigung von neo-Griceschen und relevanztheore-tischen Ansätzen. - Neo-Grice: Globale Beschreibung der diachronischen Kräfte
- Relevanztheorie: Beschreibung einer synchronischen Theorie der Interpretation (online & inkrementell)